Der Schattenesser
sonst nicht jedermann mit dem Wissen von Rindervieh und Schwein leben müssen?
Sein eigenes Denken hatte kaum noch Bestand. Alles, was ihm in den Kopf kam, war wenige Augenblicke später verschwunden. Wissen und Erinnerungen eines guten Dutzend Menschen stritten in seinem Schädel um die Oberhand. Heraus schälte sich ein Satz aus der Bibel: Legion ist mein Name, denn unser sind viele.
Michal erfuhr, wann Matthias seine erste Frau geschwängert, wann Adrian den ersten Mann getötet hatte. Auch erlangte er Wissen über ihre schäbige Kindheit, ihre Familien - und über ihre Lieblingsspeisen. Menschenfleisch war nicht darunter.
Einem der Männer nahm Michal neben den Gedanken auch die Hose. Vom anderen lieh er sich Wams und Hut. So ausstaffiert, den Leib vom frischen Blut verklebt, machte er sich auf zur Stadt. Das Wissen der beiden Männer verriet ihm die Einzelheiten ihrer Flucht aus Prag. Er kannte die Stelle im Verteidigungsring, die bis zum Morgen unbewacht blieb. Sie war sein Schlüssel zur Beute.
Ohne einem weiteren Menschen zu begegnen, überquerte Michal die kahlen Äcker. Aus der Ferne sah er das Lichtermeer der Stadt, ein Fackelband im Schwarz der Nacht. In der Dunkelheit waren weder Türme noch goldene Dächer zu sehen.
Michal war froh, daß Nadjeschda diese Enttäuschung
erspart blieb. Er wünschte sich, er hätte auch von ihr gegessen, als sie starb.
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KAPITEL 9
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S ie hatten kaum hundert Schritte im Freien zurückgelegt, da führten die Hühnerweiber Sarai erneut hinab in die Finsternis. Atemlos und mit rasendem Herzen folgte sie den sechs Frauen tiefer in die Keller unter der Judenstadt. Immer wieder gingen sie durch Türen, die mit Dornenzweigen und Hühnerherzen behängt waren. Jede wurde sorgfältig verriegelt, nachdem die Frauen siepassiert hatten. Niemand sprach ein Wort. Sarai hatte gleich zu Anfang gesagt, wohin sie wollte, und seither herrschte innerhalb der kleinen Gruppe Schweigen. In den schmalen Gängen, die oftmals so niedrig waren, daß sie nur gebückt hindurchlaufen konnten, befanden sich stets drei Hühnerweiber vor ihr, drei dahinter. In breiteren Korridoren und Kammern wurde sie von den Frauen umringt. Trotzdem fühlte Sarai sich zu keiner Zeit sicher.
Hinter jeder Ecke, hinter jeder Tür vermutete sie den mal'ak Jahve, bis die Furcht vor ihm sich auch äußerlich zeigte. Sie spürte, wie sie zitterte, wenngleich es beim Laufen niemandem auffiel. Hatte sie anfangs noch versucht, sich den Weg mitsamt seinen Abzweigungen einzuprägen, mußte sie sich nun eingestehen, daß sie nicht einmal mehr die letzten Schritte im Kopf behalten konnte. Ihr ganzes Denken wurde von der Gefahr durch den Boten beherrscht. Sie dachte nicht mehr an Kaspar, nicht an ihren Vater. Überall glaubte sie nur noch die Spuren des Engels zu sehen, sei es in einer durchbrochenen Mauer oder einem Lichtschein, der durch einen Spaltvon oben herabdrang. Der mal'ak Jahve schien allgegenwärtig.
Schließlich stürmten die drei Frauen vor ihr eine Treppe hinauf, und das Trio in ihrem Rücken drängte Sarai hinterher. Sie war völlig außer Atem. Oben betraten sie einen engen Flur und machten halt vor einer geschlossenen Haustür. Im zweiten Stock wurde die Tür eines Quartiers geöffnet, ein Mann blickte vorsichtig übers Treppengeländer auf sie herab, erschrak, als er die Hühnerkostüme sah, und zog sich blitzschnell zurück. Sie hörten, wie seine Tür wieder ins Schloß fiel und mehrfach verriegelt wurde.
Eine der Hühnerfrauen öffnete den Hauseingang einen Spalt breit und blickte vorsichtig hinaus. Sie nickte den anderen zu und gab Sarai ein Zeichen, daß sie zu ihr treten solle. Danach deutete die Frau wortlos ins Freie. Sarai beugte sich vor und schaute ebenfalls durch den Türspalt. Ihr Blick fiel auf den kleinen Platz, in dessen Mitte sich die Altneu-Synagoge erhob. Obgleich die Wand des Gotteshauses höchstens zehn Schritte entfernt war, erahnte Sarai sie eher, statt sie wirklich zu sehen. Die Nacht war unvermindert dunkel, niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Laternen zu entzünden.
Die vorderste der Frauen schlüpfte durch den Spalt nach draußen, schaute sich um und gab den übrigen ein Zeichen, daß niemand zu sehen war. Sie folgten ihr und nahmen Sarai wieder in die Mitte. Eilig huschten sie hinüber zum Hauptportal der Synagoge. Es war verriegelt.
Während die Hühnerweiber darangingen, das Tor so leise wie möglich aufzubrechen, blickte Sarai sich angstvoll um. Der
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