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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wahnsinnig?
    Die Schreckensbilder, welche die Worte der Alten beschworen, schwirrten durch ihren Kopf und machten es ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Was, zum Teufel, war dieses Hühnerhaus, von dem sie sprachen?
    Als hätte sie Sarais Frage vorausgeahnt, sagte die erste Alte: »Das Hühnerhaus ist das Heim der Baba Jaga.«
    Davon hatte Sarai gehört, in Märchen und Legenden, nicht in Berichten aus der Wirklichkeit. Ein Haus auf riesigen Hühnerbeinen!
    »Wir werden das östliche Stadttor öffnen und dem Haus unsere Huldigung erweisen«, erklärte die zweite Frau.
    »Werdet auch Ihr dann sterben?« fragte Sarai.
    »Das wird das Haus entscheiden.«
    Ein Kult, der ein Hirngespinst verehrte. Sarai wußte noch immer nicht, was sie davon halten, geschweige denn dazu sagen sollte. Schließlich fragte sie einfach: »Woher wißt Ihr soviel über den Plan der Baba Jaga?«
    »Die Prophetin hat ihn uns verkündet. Unsere Vereinigung bestand lange vorher, Dienerinnen und Mägde reicher Familien, jeden Tag mit der Peitsche des Reichtums geprügelt, jeden Tag gedemütigt von Prunk und Protzerei. Dann kam die Prophetin und öffnete uns die Augen. Seid am richtigen Tag zur Stelle, sagte sie, und das Hühnerhaus wird all dem ein Ende setzen.«
    »Was hat das mit Leander Nadeltanz zu tun?«
    »Helena Koprikova, die als erste mit der Prophetin sprach, fiel dem mal'ak Jahve zum Opfer. Wir habenebensolchen Grund ihn zu hassen wie du, mein Kind.«
    »Weshalb zweifelt ihr dann an meiner Aufgabe, den Boten zu bekämpfen?«
    »Vielleicht kann man einen Engel bekämpfen«, sagte die erste Alte, »aber niemals besiegen.«
    »Deine Mühe ist sinnlos«, ergänzte die zweite.
    »Verschenkt«, stimmte die dritte zu.
    Nicht zum erstenmal kamen Sarai Bedenken. Der Tod ihres Vaters stand immer noch deutlich vor ihren Augen, sein Tod durch ihre eigene Hand. Die Schuld daran trug der mal'ak Jahve. Doch das allein war es nicht, was sie antrieb. Da war Cassius, der sie in ihrem Streben bestärkt hatte. Ebenso der Golem. Am wichtigsten aber war, daß der mal'ak Jahve auch ihren eigenen Schatten wollte. Die drei Alten hatten recht: Er war ein Engel, und wohin sollte sie vor einem Engel fliehen? Sie konnte nicht ihr ganzes Leben auf dem Speicher einer Synagoge oder hinter bannbeladenen Türen verbringen. Ihr blieb gar keine andere Wahl, als sich dem Boten zu stellen.
    Welche Rolle aber spielte Leander Nadeltanz in all dem? Sie hatte angenommen - und Cassius hatte es ihr bestätigt -, daß der Ewige ihr durch seine Visionen den Weg weisen wollte. Er hatte ihr den Hinweis auf den Golem gegeben und ein Bild des göttlichen Boten vermittelt. Trotzdem zauderte sie.
    »Welche Aufgabe hat Nadeltanz Euch gestellt?« fragte sie. »Keine Aufgabe«, sagte die erste Alte.
    »Nur Bilder«, sagte die zweite.
    »Visionen«, die dritte.
    Sarai blieb neugierig. »Was habt Ihr gesehen?«
    »Das Hühnerhaus.«
    »Eine Armee.«
    »Die Prophetin.«
    »Helena Koprikovas Seele.«
    »Den mal'ak Jahve.«
    »Und dich.«
    Sarai starrte sie verwundert an. »Ihr habt mich gesehen?«
    »Natürlich.«
    »Deshalb lebst du noch.«
    »Deshalb erzählen wir dir soviel über uns.«
    Sie blieb mißtrauisch. »Wie deutet Ihr die Bilder?«
    Die erste der Alten beugte sich in ihrem Sessel vor. »Sie sagen uns, daß du eine von uns werden sollst.«
    »Eine von uns.«
    »Von uns.«
    »Aber ich weiß nichts über Euer Hühnerhaus oder die Prophetin«, stammelte Sarai hilflos. »Und ich will nicht, daß die Stadt untergeht.«
    »Aber du bist arm.«
    »Und schutzlos.«
    »Auch du mußt die Reichen hassen.«
    »Nein«, widersprach Sarai laut. »Ich bin keine von ihnen, aber ich bin auch keine von Euch.« »Du bist auf unserer Seite, nicht wahr?« Ein drohender Unterton.
    Sarai dachte an Kaspar, der den Hühnerweibern hilflos ausgeliefert war. Ebenso wie sie selbst. »Gewiß«, versicherte sie eilig. »Aber mein Ziel ist es, den mal'ak Jahve zu schlagen, niemand sonst. Verspürt Ihr denn gar nicht den Wunsch, Helena Koprikova zu rächen?«
    »Oh, natürlich verspüren wir den«, entgegnete die erste Alte.
    »Aber wir wissen, daß wir dem Boten nicht gewachsen sind.«
    »Wir hoffen jedoch, das Hühnerhaus ist es.«
    Sarai spürte, wie ihr Herzschlag raste. Sie mußte fort von hier. Das Gespräch mit den drei Alten drehte sich im Kreis, sie vertat nur kostbare Zeit. Sie mußte den Golem um Rat bitten, er würde ihr helfen. Alles andere war sinnlos.
    »Werdet Ihr mich gehenlassen, wenn ich

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