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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Arbeiter kamen von außerhalb. Vielleicht... lebt die Schechina hier. Keiner weiß es. Nur ein Versuch.«
    Sarai begriff, was er damit sagen wollte. Ihre letzte Hoffnung mochte sich als Hirngespinst erweisen. Falls wirklich jemand in diesem Gemäuer lebte, war es dann nicht an der Zeit, daß er sich zeigte? Hatte das Otzar ha-Neschamot sie mit leeren Versprechungen um ihre Seele betrogen?
    Schweigend stolperten sie eine lange Treppe hinunter und gelangten auf einen Flur, der vor einer Doppeltür endete. Als Sarai sie öffnete, sahen sie, daß dahinter ein enger Innenhof lag, kaum mehr als ein düsterer Schacht. Die Fenster in den angrenzenden Wänden waren ohne Glas, eckige Schlünde, aus denen sie unsichtbare Augen beobachten mochten. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es eine weitere Tür, gleichfalls zweiflügelig. Da sie nicht wußten, welcher Weg zur Schechina führte, zugleich aber keinen Schritt zurückweichen wollten, um dem Sichelmann nicht in die Arme zu laufen, blieb ihnen nur, ins Freie zu treten.
    Wortlos überquerten sie den Hof. Sarai schaute nach oben und bemerkte, daß die Nachtwolken in flackerndes Gelb getaucht waren. Es war nur ein schwacherHauch von Licht, doch er reichte aus, ihr zu verraten, was in der Judenstadt geschah. Überall mußten Feuerwüten, groß genug, daß ihr Schein bis zu den Wolken aufstieg.
    Sie hatten die Doppeltür beinahe erreicht, als sie von innen aufgestoßen wurde. Der Mann mit der Sichelsprang ihnen entgegen, die Zähne zu einem irren Grinsen gefletscht, das Gesicht eine wilde Grimasse.
    Sarai stieß Cassius nach rechts und wollte selbst nach links ausweichen, um dem Wahnsinnigen zu entgehen, doch ihr Sprung kam zu spät. Die Sichel beschrieb einen flirrenden Bogen, und Sarai ließ sich fallen. Erst dann erkannte sie, daß genau das die Absicht ihres Gegners gewesen war. Nicht die Sichel sollte sie treffen, sondern das Knie, das der Mann ihr von unten entgegenrammte. Plötzlich sah Sarai nur noch tanzende Funken um sich herum und ging benommen zu Boden. Ergeben wartete sie auf den tödlichen Hieb mit der Sichel, doch zu ihrem Erstaunen blieb er aus. Hatte er sie gar schon getroffen? Nein, sie atmete noch, sie lebte. Warum aber tötete der Mann sie nicht?
    Immer noch blind, stemmte sie sich mit beiden Händen auf. Ganz allmählich lichtete sich der Vorhang ausblitzenden Lichtern, dann konnte sie mit ihrem linken Auge wieder unscharfe Formen erkennen. Das rechte war hoffnungslos zugeschwollen.
    Der Kerzenleuchter war ihr aus der Hand gefallen und lag achtlos am Boden. Eine Flamme war erloschen, die beiden anderen glommen noch schwach. Das Licht reichte aus, um Sarai mit ansehen zu lassen, wie sich der Mann erneut über Cassius beugte und mit der Sichel ausholte. Cassius schrie nicht auf, er keuchte nur einmal, als sei ihm ein Mißgeschick geschehen, dann sank sein Kopf zurück auf das Pflaster.
    Sarai heulte auf und schleppte sich auf die beiden Männer zu. Sie hatte nicht einmal die Hälfte der Entfernung zurückgelegt, da wurde Cassius vom zweiten und letzten Schlag der Sichel enthauptet.
    Der Mörder, das Gesicht vom Blut des Alchimisten entstellt, wandte sich zu Sarai um.
    Sie sah ihn auf sich zukommen, sah seine Faust, die auf ihr Gesicht zuraste, und ließ sich fallen. Sein Schlag verfehlte sie, aber sie wußte, daß sie ihr Ende damit nur hinauszögerte. Sie kam kaum noch auf die Füße, geschweige denn, daß sie es mit dem Mann aufnehmen konnte. Ihre Mission war beendet. Der mal'ak Jahve würde bekommen, was er verlangte. Er aber hatte sie nicht besiegt, das hatte ein anderer vollbracht. Jemand, den sie nicht kannte, von dem sie nichts wußte.
    Ein Tritt ihres Gegners traf ihre Schläfe, dann spürte sie für eine Weile nichts mehr. Wie lange dieser Zustand anhielt, wußte sie nicht.
    Als sie ihr unversehrtes Auge wieder öffnen konnte, hatte sich wenig an der Umgebung verändert. Der Hof war immer noch finster, die beiden verbliebenen Kerzen flackerten zaghaft am Boden. Cassius' Schädel lag mit aufgerissenen Augen da. Sein Mörder hockte auf Knien vor dem Torso und wandte Sarai den Rücken zu. Sie begriff, daß er irgend etwas mit dem Leichnam tat, konnte aber nicht sehen, was es war. Sie hörte merkwürdige Laute, feucht und schmatzend.
    Sarai versuchte, ihre Arme und Beine zu bewegen. Mit viel Mühe würde sie sich aufrichten können. Zur Flucht aber war sie zu schwach. Weshalb hätte sie auch fliehen sollen? Dir Leben war ihr gleichgültig, und die

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