Der Schattenesser
Schechina schien unerreichbar. Um sie herum ging die Judenstadt in Flammen auf und mit ihr vielleicht die
ganze Welt. Weshalb sich noch die Mühe machen, den mal'ak Jahve aufzuhalten, wenn es ohnehin keine Hoffnung für die Menschen gab?
Der Mann mußte bemerkt haben, daß sie erwacht war, denn er wandte sich ab vom toten Cassius und schaute Sarai neugierig an. Sein ganzer Oberkörper, seine Arme, sein Gesicht - alles war blutüberströmt. Und doch schien er bis auf die Nase unverletzt. Was kaute er da mit vollem Mund? Was stopfte er sich gierig zwischen die Zähne?
Sie begriff die Wahrheit im selben Moment, da ihr bewußt wurde, wie nebensächlich all diese Fragen waren. Er hatte Cassius getötet. Was zählte es da noch, daß er den Leichnam auffraß?
Irgendwo in ihrem umnebelten Geist erkannte ein Teil von ihr, daß ihre Gedanken falsch waren. Daß sie den Sinn für die Wirklichkeit verlor.
So also ist das Sterben, dachte sie kühl und schlief ein.
Michal spürte, wie das Wissen des alten Mannes sich in ihm ausbreitete, gewaltige Mengen von Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen, dazu die Inhalte Hunderter Bücher und Schriften, uralte Lehren und Formeln, Geheimnisse mit und ohne Sinn, Lösungen, deren Rätsel längst vergessen waren.
Er erfuhr von einem anderen Esser und zog den Vergleich zu sich selbst, mit dem Unterschied, daß der andere Schatten verzehrte, kein Menschenfleisch. Michal wußte jetzt, wer das Mädchen war, das den alten Mann hatte retten wollen, und er erfuhr auch, weshalb es hier war, in diesem Palast, ausgerechnet heute.
Du sammelst Wissen für mich, sagte die Alte in seinem Kopf. Ihr Gesicht erschien vor seinem inneren Auge. Du bist fleißig. Begierig zu lernen. Lerne für mich, mein Junge, lerne alles! Hilf mir, die Menschen zu vers tehen. Laß mich teilhaben an ihren Rätseln. Sei mein Schlüssel zu den Toren ihres Seins.
Michal mochte seinen eigenen Verstand längst verloren haben, doch die Vielzahl der fremden Gedanken in seinem Kopf half ihm zu begreifen, daß er nur das Werkzeug der Alten war. Nicht der Herr des Hühnerhauses, das war er niemals gewesen. Er war ihr Sklave, ihr Becher, aus dem sie das Wissen der Menschen trank. Er fragte sich, was geschehen würde, wenn er leer war, wenn es in ihm nichts mehr gab, wovon sie sich Nutzen verspräche.
Während das Wissen des gelehrten Mannes ihn mehr und mehr erfüllte, und er Zusammenhänge begriff, die er zuvor nicht wahrgenommen hatte, da spürte er, wie die Alte unruhig wurde. Hatte sie ihn gerade noch gelobt, geriet sie nun ins Stocken. Ins Staunen. Geriet in Verwirrung.
Was ist das? fragte sie, während sie immer schneller und begieriger aus ihm trank. Was ist das? Was ist das? Was meinst du? erwiderte er stumm und kaute weiter.
Diese Gedanken! Was geht da vor? Sie verstummte, und er spürte, wie sie für einen Augenblick von ihm abließ. Dann, nach einer Weile, stammelte sie: Das habe ich nicht gewußt. Wie kann das sein?
Michal verstand sie nicht, schob sich ein weiteres Stück in den Mund und wandte dabei den Blick nicht von dem Mädchen. Es war eingeschlafen. Oder gestorben.
Du mußt von ihr essen! verlangte die Alte in seinem Kopf. Iß von ihr! Mach schon, iß von ihr! Ihre Worte erklangen immer schneller, wurden immer aufgeregter.
Willenlos griff er nach der Sichel und kroch zu dem reglosen Mädchen hinüber. Sarai war ihr Name, das wußte er aus der Erinnerung des Mannes.
Iß von ihr, jetzt gleich!
Er packte die Sichel fester und setzte die obere Spitze auf ihren Brustkorb. Sarai atmete noch, sie lebte.
Ihr Wissen! Wichtig, so wichtig. Ihr Wissen, schnell!
Er führte die rasiermesserscharfe Sichelspitze zärtlich zwischen den sanften Wölbungen ihrer Brüste hinab bis zum Gürtel. Das Hemd klaffte auf und entblößte ihren hellen Oberkörper. Die Klinge hatte ihre Haut nicht verletzt, hatte nur den Stoff zerschnitten.
Jetzt setzte er an, um den entscheidenden Schratt zu tun.
Nein, warte! Töte sie nicht!
Nicht töten? dachte er verwirrt.
Nur ein Stück von ihr will ich. Nur ein kleines Stück. Ihr Wissen, aber nicht ihren Tod.
Was soll ich tun? Die Stimme in seinem Kopf zögerte einen Augenblick. Dann sagte sie: Einen Finger. Irgendeinen.
Michal vergewisserte sich mit einem Blick in Sarais geschundenes Gesicht, daß sie noch ohnmächtig war. Ihr eines Auge war schwarz geschwollen.
Er packte ihr linkes Handgelenk, spreizte ihre Finger flach am Boden und setzte die Klinge an. Es knirschte, als er die
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