Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
widerhallten. Von irgendwo näherte sich eine Menschenmenge. Michal konnte die Richtung nicht ausmachen. Tatsächlich schien es ihm, als ertöne der Lärm gleich von mehreren Seiten. Er spürte förmlich, daß ein großes Ereignis bevorstand.
    Trotzdem ließ er sich nicht beirren und lief weiter zum Palais, kletterte die Steine hinauf und horchte am Fenster. Dahinter war kein Laut zu vernehmen. Der Alte mußte bereits tiefer in das leere Bauwerk vorgedrungen sein.
    Auch Michal schob die Bretter auseinander und stieg in den finsteren Raum dahinter. Durch eine offene Tür, die hinaus in einen kahlen Gang führte, fiel ein schwaches Licht, dessen Quelle sich langsam entfernte. Der Mann mußte Kerzen entzündet haben. Michal fragte sich, was der Kauz hier zu suchen hatte. Auch das Gesicht der alten Frau hatte ihm darauf keine Antwort gegeben. Ihr Befehl aber war eindeutig.
    Er folgte dem Alten durch Gänge und an leeren Kammern vorbei, erst eilig, allmählich aber gelassener, denn er sah, daß der andere ihm nicht davonlaufen würde. Ganz langsam näherte er sich seinem Opfer, bis sich das Licht der Kerzen auf der blitzenden Sichel brach.
    Sarai zwängte sich in einen Einschnitt zwischen zwei Häusern und blickte zurück. Die tobende Menge ergoß sich hinter ihr in die Gasse. Männer und Frauen reckten Messer, Fackeln und Eisenspieße. Im Hintergrund leckten aus den ersten Fenstern schon Flammen. Unweit von Sarais Versteck stürzten mehrere Männer aus einem Haus, um ihre Familien zu verteidigen und sich den Angreifern entgegenzuwerfen. Sie waren mit Fleischermessern und Knüppeln bewaffnet. Vielleicht hätten sie einer gleichen Anzahl von G egnern widerstehen können; dem kreischenden, blutrünstigen Pöbel aber hatten sie nichts entgegenzusetzen. Die Flut der Leiber hielt kurz an, gab der kleinen Schar Verzweifelter eine letzte Gelegenheit zum Atemholen, dann wälzte sich der Strom einfach über sie hinweg. Mistgabeln und Pflöcke bohrten sich in die Körper der Unglücklichen. Sogleich verschwand ein Teil der Horde in dem Haus, aus dem die Männer gekommen waren, und wenig später erklangen die Schreie von Frauen und Kindern, doch ihr Leid ging im neuerlichen Brüllen und Trampeln der Menge unter. Immer wieder schrien die Angreifer ihre wirre Überzeugung durch die Gassen: »Die Juden brachten die Pest nach Prag! Die Juden brachten die Pest nach Prag!«
    Sarai duckte sich tiefer, als die ersten Männer und Frauen an ihr vorüberstürmten. Einige trugen trotz der Kälte nur ihre Nachtgewänder. Keiner von ihnen hatte Zeit verschwendet, als es daran ging, sich dem Pöbel anzuschließen. Eine Ansteckung in dem dichten, schwitzenden Gewimmel fürchtete niemand mehr. Man glaubte die Rettung zu kennen, und sie schien gründlicher als Medizin und Aderlaß.
    Sarai hatte keine Angst um ihr Leben, spürte nicht einmal Furcht vor den Schmerzen des Todes. All das hatte sie im Otzar ha-Neschamot zusammen mit ihrer Seele zurückgelassen. Vielmehr war es der verzweifelte Wunsch, ihre Aufgabe zu Ende zu bringen, der sie immer tiefer in den Spalt zwischen den Häusern kriechen Heß.
    Ein Mann blieb plötzlich vor ihrem Versteck stehen.
    Er trug in der einen Hand einen brennenden Scheit, in der anderen ein Beil. Er beugte sich vor und hielt die Fakkel in den dunklen Spalt. Zwischen ihm und Sarai mochten mehrere Schritte liegen, trotzdem spürte sie die Hitze der Flammen auf ihrem Gesicht.
    Jetzt hatte der Mann sie entdeckt. »Vor wem versteckst du dich denn, mein Kind?« fragte er lauernd.
    Sie gab keine Antwort, sondern wich ein Stück zurück. Sie konnte nicht sehen, ob sie in einer Sackgasse steckte, hoffte aber, daß der Spalt auf der anderen Seite der Häuser ins Freie führte.
    Der Mann machte Anstalten ihr zu folgen, stellte aber schon nach wenigen Augenblicken fest, daß der Spalt zu schmal für ihn war. Er fluchte lautstark, schenkte Sarai noch einen heimtückischen Blick, dann gab er auf und zog sich zurück.
    Mühsam schob Sarai sich weiter. Schließlich wehte ihr frische Luft entgegen. Auf der anderen Seite der Häuserschien die Straße noch nicht von tollwütigen Christen überschwemmt. Je näher sie aber dem Ende des Einschnitts kam, desto größer wurde ihr Unbehagen. Was war, wenn sie erwartet wurde? Wenn der Mann mit dem Beil hinter der Ecke stand und nur darauf wartete, daß sie sich hinauswagte?
    Nun, daran konnte sie nichts ändern. Dieses Wagnis mußte sie eingehen.
    Schritt um Schritt näherte sie sich dem

Weitere Kostenlose Bücher