Ich war Hitlerjunge Salomon
NICOLAI
Deutsche Erstausgabe
Übersetzung der bei Editions Ramsay 1990
erschienenen französischen Ausgabe EUROPA EUROPA
Aus dem Französischen von Brigitta Restorff
Mit dem Verfasser erstellte Neubearbeitung des Textes
Redaktion: Carolin Hilker-Siebenhaar und Gerd Rüdiger Um-
schlaggestaltung unter Verwendung des Plakates zum Film
HITLERJUNGE SALOMON, © Jugendfilm-Verleih GmbH, Berlin
© 1992 Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH
und autorenagentur lansk mehr, beide Berlin
5. Auflage 2004
Satz: Mega-Satz-Service, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
ISBN 3-87584-424-6
Dem Andenken meiner Mutter Rebekka,
meines Vaters Israel
und meiner Schwester Bertha,
die dem Holocaust zum Opfer fielen,
und dem Andenken meines Bruders Isaak
gewidmet, der starb, während ich
diesen Bericht verfaßte.
Man hat mich in letzter Zeit häufig gefragt, weshalb ich mit
meiner Geschichte in al den Jahren nie an die Öffentlichkeit
getreten bin. Leider war es mir bislang unmöglich, darauf eine
eindeutige und befriedigende Antwort zu geben.
Es lag wohl vor al em daran, daß ich an die Vergangenheit
und die tragischen Ereignisse, die sie prägten, nicht erinnert
werden wol te. Ich gab mir im Gegenteil die größte Mühe, zu
verdrängen und zu vergessen. Der graue Al tag sorgte dafür, daß
ich das Thema auf die lange Bank schob und nur sehr selten
Gelegenheit fand, mich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Ich
glaube, die Zeit war einfach nicht reif.
Wenn ich auch manchmal den Drang verspürte, mein Aben-
teuer zu erzählen, so stel ten sich mir doch gleichzeitig die Fragen,
die mich geradezu lähmten: Hatte ich wirklich das Recht, mich
mit den Überlebenden des Holocaust zu vergleichen? Hatte ich
das Recht, mich als Teil ihrer Geschichte zu bezeichnen, meine
Erinnerungen mit den ihren auf eine Stufe zu stel en? Hatte ich
das Recht, mich mit den Widerstandskämpfern, den Gefangenen
der Konzentrationslager und der Ghettos zu vergleichen, mit
jenen, die sich in Wäldern, Bunkern und Klöstern versteckten?
Sie waren Helden. Mit ihrem Leid waren sie bis an die Grenze
dessen gegangen, was ein Mensch ertragen kann. Und doch war
es ihnen gelungen, sich mit letzter Kraft ihre jüdische Identität,
ihre Menschlichkeit zu bewahren.
Ich dagegen war zur selben Zeit unbehel igt unter den Nazis
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umhergegangen, hatte ihre Uniform und das Hakenkreuz auf
meiner Mütze getragen und »Heil Hitler!« gebrül t, als hätte ich
mich tatsächlich mit ihrer verbrecherischen Ideologie und ihren
barbarischen Zielen identifiziert.
Welche Botschaft könnte ich vermitteln? Würde man mir mei-
ne Geschichte überhaupt glauben? Würde man versuchen, sie
zu verstehen? Und wenn ich mich zur Niederschrift entschlösse:
Wäre ich imstande, die Einsamkeit eines langen Berichts inmitten
al der Alpträume, Gewissensbisse und Selbstzweifel zu ertragen?
Mehr als vierzig Jahre habe ich über diese Fragen nachgedacht.
Bis zu dem Tag, an dem mir keine andere Wahl mehr blieb.
Denn im Lauf der Zeit begriff ich, daß das Trauma, das ich zu
verdrängen suchte, sich nicht länger verdrängen ließ. Mit diesem
seelischen Druck konnte und wol te ich nicht länger leben. Um
mich davon zu befreien, mußte ich mir alles im wahrsten Sinne
des Wortes von der Seele schreiben.
Und dabei habe ich es mir versprochen, und ich verspreche
es auch dem Leser, mich von Anfang bis Ende an die Wahrheit
zu halten. Die Barrieren sind gefal en, und meine Hand kann
endlich zur Feder greifen, damit meine schmerzlichen Erinne-
rungen wachgerufen werden, die Erinnerungen an meine Shoa.
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Ich wurde am 21. April 1925 in Peine, nahe Braunschweig,
in Deutschland, Europa, geboren.
Meine Eltern waren 1918 hierhergezogen, als in Rußland
die Oktoberrevolution ausbrach. Die Weimarer Republik nahm
damals gerne Juden auf. Wir waren vier Kinder. Bei meiner
Geburt war mein älterer Bruder Isaak sechzehn Jahre alt, David
zwölf und meine Schwester Bertha neun.
Kurz nach ihrer Ankunft eröffneten meine Eltern in der
Breiten Straße, der Hauptverkehrsstraße, ein Schuhgeschäft,
mit dem sie die Familie ernähren konnten. Zu jener Zeit waren
uns die deutschen Nachbarn nicht feindlich gesonnen. Die
alteingesessenen Juden hingegen, die schon seit Generationen
in Deutschland lebten, begegneten uns kühl.
Wir waren für sie nur armselige Ostjuden. Hin und wieder
beklagte man sich zu Hause darüber, was mich jedoch wenig
störte. Ich
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