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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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tastete sich den Gang hinunter, stieß gegen eine Wand, bog nach links, dann nach rechts und wäre fast eine Treppe hinuntergefallen. Die Stufen führten nach oben wie nach unten, und nach kurzem Abwägen entschied Sarai sich für das obere Stockwerk. Wenig später schon hatte sie jegliche Orientierung verloren, wußte nicht einmal mehr, in welchem Flügel des Palais sie sich befand.
    Vielleicht war es Instinkt, vielleicht schlichter Zufall, doch schon kurz darauf, als sie wieder einmal dabei war, alle Hoffnung aufzugeben, entdeckte sie das Licht.
    Es drang hinter einer Biegung hervor, ganz zart nur, flackernd. Kerzen, nahm sie an. Obgleich es sie drängte, einfach um die Ecke zu springen und den anderen, wer immer es sein mochte, mit ihrer Anwesenheit zu überrumpeln, so zwang sie ihre Sorge um Kaspar und Josef zur Vorsicht. Langsam schob sie sich an der Wand entlang auf die Biegung zu und spähte um die Ecke.
    Dahinter führten vier Stufen in einen abgesenkten Raum, so willkürlich und sinnlos wie die übrige Gestaltung des Gebäudes. Die Kammer war nicht groß, höchstens sechs mal sechs Schritte. Weitere Stufen führten auf der anderen Seite nach oben zu einem offenen Durchgang.
    Sarai hätte vor Grauen fast aufgeschrien: Am Boden der Kammer lag Cassius. Seine Augen waren geschlossen, er regte sich nicht. Über ihm stand eine zerlumpte Gestalt, die Sarai den Rücken zuwandte. Das verklebte Haar des Mannes stand wirr in alle Richtungen ab. Sein ganzer Leib war mit Blut beschmiert. In der rechten Hand hielt er eine Sichel.
    Der Mann ging neben Cassius in die Knie und holte mit der Klinge aus, als Sarai ihm von hinten in den Rücken sprang. Beide polterten sie zu Boden, halb über den leblosen Cassius hingestreckt. Die Sichel rutschte scheppernd davon und blieb am Rande des Lichtkegels liegen.
    Sarai wollte sich aufrichten, als der Mann ihr seinen Ellbogen vor die Brust stieß. Einen Augenblick lang bekam sie keine Luft mehr und rollte zur Seite. Unglaublich behende sprang der Mann auf beide Füße, setzte nach und holte aus, um Sarai einen Tritt ins Gesicht zu versetzen. Doch im selben Moment glitt sie zur Seite und schlug ihm mit dem Fuß hart gegen das Knie. Mit einem schmerzvollen Keuchen stürzte der Mann zu Boden.
    Sarai mühte sich, aufzustehen, aber der Schmerz in ihrer Brust brannte immer noch wie Feuer, und sie brauchte zwei Versuche, ehe sie taumelnd auf die Beine kam. Der Mann wälzte sich herum und wollte sich mit einer Hand hochstemmen, als Sarai ihm mit aller Kraft unters Kinn trat. Schlaff sank er in sich zusammen.
    Cassius stöhnte leise und blinzelte mit den Augen. Sarai eilte an seine Seite und versuchte, ihn zum Aufstehen zu bewegen. Sie wußte, daß ihr Sieg nur von kurzer Dauer war. Bald schon würde der Mann erwachen. Ihr Blick fiel auf die silberne Sichel, aber sie brachte es nicht über sich, den Ohnmächtigen damit zu töten. Statt dessen bemühte sie sich, Cassius aufzuhelfen.
    »Wir müssen hier weg!« rief sie aus, während sie den stöhnenden Alten stützte.
    »War plötzlich ... hinter mir«, keuchte er.
    »Ja, ja«, sagte sie ungeduldig, »komm schon. Er wird gleich aufwachen.«
    »Kein normaler Mensch«, brachte Cassius hervor und stemmte sich mit Sarais Hülfe in die Höhe. »Etwas stimmt nicht mit ihm. Kann es ... fühlen.«
    »Denk später drüber nach. Los, jetzt!«
    Sie ergriff den Kerzenleuchter mit der Linken und stützte Cassius mit der Rechten, während sie sich die Stufen hinauf schleppten. Hinter ihnen versank die Kammer in völliger Schwärze. Sarai hörte ein Rascheln und Stöhnen aus der Finsternis. Der Mann kam wieder zu sich. Sie hoffte, daß er in der Dunkelheit die Sichel nicht finden würde. »Wir dürfen nicht von hier fortlaufen«, flüsterte Cassius schwach. »Nein«, stimmte Sarai zu und rang vor Anstrengung
    nach Atem. »Ich muß die Schechina finden.«
    »Du kennst sie?« fragte der Alte erstaunt.
    »Später.« Sarai konnte jetzt nicht auf die Frage des Alchimisten eingehen. »Du mußt hier raus.« Cassiusi riß sich los und sank kraftlos mit dem Rücken gegen die Wand. »Ich muß mit der Schechina sprechen.«
    »Du hast die ganze Zeit von ihr gewußt?« fragte Sarai fassungslos und blickte gleichzeitig hinter sich ins Dunkel. Der Mann würde ihnen folgen. Noch war nichts von ihm zu sehen, aber der Kerzenschein fiel auch nur wenige Schritte weit.
    »Die letzte Hoffnung«, keuchte Cassius. »Nur Legenden. Niemand hat je den Herrn dieses Hauses gesehen. Die

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