Der Schattenesser
Ausgang, während ihr der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief. Sie fürchtete um Kaspar und Josef und all die anderen, die zugrunde gehen würden, wenn sie nicht rechtzeitig ins Palais Siebensilben gelangte.
Mit angehaltenem Atem zwängte sie sich ins Freie. Niemand erwartete sie. Die Straße war noch unberührt von den Mordbrennern, obgleich es nur noch kurze Zeit dauern konnte, bis sie auch diesen Teil der Judenstadt einnehmen würden. Ein paar Bewohner der angrenzenden Häuser liefen aufgeregt umher, unschlüssig ob sie sich in ihren Quartieren verbarrikadieren oder vor den Angreifern fliehen sollten. Das eine schien so aussichtslos wie das andere.
Sarai rannte die Straße hinunter und lauschte auf den Lärm in den Nebengassen. Die Christen mit ihren Fackeln , Waffen und Lügen schienen überall zu sein. An jeder Ecke hielt sie inne und sah sich um. Mehr als einmal erblickte sie am anderen Straßenende Feuerschein, hörte die Schreie der Angreifer und Sterbenden. Es gab nahezu keinen Widerstand gegen den wütenden Mob. Obgleich es während der vergangenen Jahrhunderte immer wieder zu Übergriffen auf die Judenstadt gekommen war, hatte sich nie eine Schutztruppe formiert. Kaiser und Stadtobere hatten das nicht zugelassen.
Auch die Soldaten der Liga schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Nirgends war einer der Söldner zu sehen. Entweder war ihnen gleichgültig, was mit den Juden geschah, oder aber sie hatten anderes zu tun.
Trotz mehrerer Umwege, die sie einschlug, um der fanatischen Horde zu entgehen, erreichte Sarai schon wenig später den Platz am Fuß des Palais Siebensilben. Er war nicht groß und lag abseits der Hauptstraßen, daher waren noch keine Christen hierher vorgedrungen. Ein paar Flüchtlinge, die vor den anrückenden Mördern geflohen waren, drängten sich an der Südseite des Platzes aneinander. Einer redete lautstark auf die anderen ein. Die wenigen Wortfetzen, die Sarai aufschnappte, verrieten ihr, daß die Gruppe versuchen wollte, sich zu verstecken; die Männer und Frauen rechneten damit, daß die Ligatruppen nicht mehr lange auf sich warten lassen würden. Ganz gleich wie blutrünstig die Soldaten sein mochten, ihre Obersten würden ihnen befehlen, dem Aufruhr ein Ende zu bereiten.
Sarai war davon keineswegs überzeugt. Im stillen wünschte sie den verängstigten Familien am Rande des Platzes Glück, dann lief sie hinüber zur Fassade des Palais. Das Gebäude wirkte ebenso unbewohnt wie in den Monaten zuvor. Die Schechina schien wenig Wert auf Behaglichkeit zu legen.
Türen und Fenster waren vernagelt, doch nach kurzer Suche fand sie eines, durch das sie hineinschlüpfen konnte. Die Dunkelheit jagte ihr Angst ein. Sie hatte weder Fackel noch Kerze, und ihr blieb nichts anderes übrig, als auf jegliches Licht zu verzichten. Zum erstenmal seit dem Tod ihres Vaters hatte sie ein Ziel, und sie wollte sich durch nichts davon abbringen lassen.
Der Raum hinter dem Fenster war völlig leer, in einem äußerlich unbewohnten Haus keine große Überraschung. Es roch nach feuchtem Stein, und ein eisiger Luftzug blies durch das Gemäuer. Vor der Tür des Zimmers lag ein Gang. Das aber war auch schon alles, was Sarai erkennen konnte. Jenseits des Durchgangs würde sie sich mit beiden Händen vorantasten müssen. Ein scheußlicher Gedanke. Insgeheim hoffte sie, daß die Schechina sie finden würde, nicht umgekehrt.
Die Schechina! Noch immer hatte sie keinerlei Vorstellung von ihr. Was hatte die Stimme ihres Vaters gesagt?
Gottes Tochter, die er der Welt zur Gemahlin gab.
Was bedeutete das? War der Satz wörtlich zu verstehen, oder verbarg sich dahinter ein zweiter Sinn wie in so manchen Sprüchen der Rabbis? Gottes Tochter - war die Schechina deshalb eine Frau? War sie überhaupt ein Mensch?
Was sonst sollte sie sein? Etwas, das nur in Gedanken existierte? Ein Bild, ein Duft, eine göttliche Melodie? Vielleicht war sie schlichtweg das ganze, verfluchte Haus.
Sarai hatte das Palais kaum betreten, da verwünschte sie es schon. Was, wenn der mal'ak Jahve sie hier aufspürte? Hier hatte er leichtes Spiel mit ihr. Es gab keinen, der sie beschützte, keine Hühnerweiber und keinen Bannspruch des Rabbi Löw. Hier gab es nur Sarai und ihren Feind.
Und - vielleicht - die Schechina.
Sarai trat hinaus auf den Gang und legte vorsichtig beide Handflächen an die gegenüberliegende Wand. Die rohe, unverputzte Mauer war eiskalt. Sie spürte das Hämmern ihres Herzens bis in die Fingerspitzen.
Sie
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