Der Schattenesser
es heraus ...«, kroch es spröde über seine Lippen.
Sarai blinzelte und sah vor lauter Tränen nur noch verschwommene Umrisse. Sie griff mit beiden Händen nach dem Messer - und erstarrte. Sie wollte tun, was er sagte, wollte es wirklich, doch die Berührung des kalten Messergriffs war mehr als sie ertragen konnte. Sie dachte nur immer wieder daran, daß die andere Seite mitten im Körper ihres Vaters steckte, so tief in der Wärme seiner Brust. Er würde Schmerzen haben, wenn sie es hervorzog, und sie wollte ihm nicht weh tun. Niemals wiederwollte sie ihm weh tun.
»Zieh es ... heraus«, stöhnte er erneut.
Und diesmal gehorchte sie. Sie schloß die Augen, umfaßte den Messergriff und riß ihn hervor. Eine heiße Flüssigkeit schoß ihr ins Gesicht, über den Körper, auf die Hände. Sein Blut.
Ein fingerdicker Strahl spritzte aus der Wunde, als hätte sie einen Pfropfen aus einem Weinschlauch gezogen. Die Erstarrung ihres Vaters löste sich, als sei er erleichtert, daß es so gekommen war, und er sank im Stuhl in sich zusammen. Der Blutstrahl aber spritzte noch einige Augenblicke länger aus der Wunde, dann ebbte er langsam ab und lief als träger Strom über das Kleid ihrer Mutter.
Sarai heulte und wollte um Hilfe rufen, aber ihre Stimme versagte ihr den Dienst. Sie wußte, daß es für ihn keine Hilfe mehr gab. Verzweifelt strich sie mit den Fingern auf der Wunde umher, aber der Strom versiegte nicht. Sie begriff, daß ihr Vater verbluten würde.
Und sie verstand noch etwas: Daß er genau gewußt hatte, was er von ihr verlangte.
Das Messer mußte so unglücklich in seinen Brustkorbgefahren sein, daß es ihn nicht tötete. Zumindest nicht so schnell, wie er es sich gewünscht hatte. Es mußte wieder heraus, damit das Blut ungehindert aus seinem Körperströmen konnte. Er hatte das gewußt, als er sie bat, die Klinge herauszuziehen. Er wollte, daß sie ihn tötete, weil er selbst es nicht vermochte.
Die Erkenntnis ging unter in dem Wirbelsturm des Entsetzens, der durch ihren Schädel raste. Immer noch versuchte sie vergeblich, die Blutung zu stillen. Doch siekonnte nichts als zusehen, wie er starb.
Sarai fiel auf die Knie. Weinend, schluchzend, geschüttelt von einer Trauer, die sie zuletzt beim Tod ihrer Mutter verspürt hatte. Doch diesmal trug sie selbst die Schuld . Sie hätte das Messer nicht berühren dürfen.
Schließlich schloß ihr Vater in einer letzten Gnade die Augen. Sein Atem stockte, stand dann still. Das Blut lief weiter. Er aber war tot.
Sarai klammerte sich an ihn, ganz fest, erfüllt von einer verzweifelten Zuneigung, die sie lange nicht mehrgespürt hatte. Jetzt, da er nicht mehr war, kehrte die Liebe zu ihr zurück und verlachte ihre vergebenen Mühen .
Sie rannte durch die Nacht, und die Kälte krallte sich in ihre blutdurchtränkte Kleidung. Die Finsternis schützte sie vor fremden Blicken, als sie durch die Judenstadt in Richtung des Flusses lief.
Am Palais Siebensilben lagerten zwei Dutzend Söldner, doch ehe Sarai den Platz vor dem Gebäude umgehen konnte, tauchten auch hinter ihr Soldaten auf. Sie hatten sie noch nicht bemerkt, doch der Rückweg war ihr abgeschnitten. Getrieben allein von ihren Instinkten zog Sarai sich in den Schatten einer Nische zwischenzwei Häusern zurück, dorthin, wo das Licht der drei Feuer sie nicht erreichen konnte.
Die Söldner hatten gleich vor dem verlassenen Palais Holz und alte Möbel aufgestapelt und sie wie Scheiterhaufen in Brand gesteckt. Jetzt wärmten sie sich an den Flammen, brieten Schweinehälften und Hundefleisch. Weinkrüge machten die Runde. Bier schäumte durchgrölende Kehlen. Manche der Männer waren bereits eingeschlafen, doch ein Großteil war wach, feierte schreiend und jubelnd den Sieg und die reichhaltige Beute. Sarai sah zu und spürte nicht die geringste Angst.
Ihr war klar, was geschehen würde, wenn die Kerle sie entdeckten. Sie versteckte sich vor ihnen, aber sie fürchtete sie nicht wirklich. Es war der Trieb zur Selbsterhaltung, der sie lenkte, keine wirklich empfundene Sorge. Sie war verzweifelt, geschunden, am Boden zerstört, aber es war nicht der Tod, den sie suchte. Alles, was sie wollte, war, hinauf zum Hradschin zu laufen, zu Cassius.
Sie würde durch den Fluß schwimmen müssen, aber das hatte sie schon früher getan. Damals war es ein Kinderspiel gewesen, eine Mutprobe. Heute hing ihr Leben davon ab. Und ihr Seelenheil.
Der zweite Söldnertrupp passierte ihr Versteck, ohne das blutüberströmte,
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