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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hätte ohnehin nicht sehen können, ob er darin saß oder nicht.
    Wo sonst aber sollte er schon sein? Er ging nicht mehr aus. Und wie hätte er den Riegel von außen vorschieben sollen? Das Vorhängeschloß, mit dem sie die Tür früher gesichert hatten, wenn sie alle fortgehen wollten, hing nicht an der Flurseite. Es konnte also nur der Riegel sein, der den Zugang versperrte. Demnach mußte jemand im Inneren sein.
    Sie rief ihn noch einmal, aber es klang halbherzig. Sie wußte jetzt, daß er nicht öffnen würde.
    Nicht öffnen konnte.
    Unsinn. Was sollte schon passiert sein?
    Menschen sterben manchmal. Einfach so, ganz unerwartet. Und vorher verriegeln sie die Tür? Niemals.
    Sarai ertappte sich jetzt dabei, wie sie sich immer heftiger gegen das Holz preßte. Vielleicht war er eingeschlafen. Oder er war betrunken, das war er oft.
    Nein, nicht am Sabbat. Auf keinen Fall.
    Hör auf nachzudenken! Es hilft dir nicht. Dir nicht und ihm nicht. Tritt einfach die verdammte Tür ein und sieh nach.
    Genau das tat sie. Es war schwerer, als sie erwartet hatte. Sie mußte fünf- oder sechsmal zutreten, bis der Riegel zersplitterte, und danach hatte sie einen Krampf im Fuß. Es tat höllisch weh, und einen Moment lang konnte sie kaum stehen, geschweige denn durch die offene Tür gehen. Aus einer der anderen Unterkünfte reckte sich zögernd ein Kopf auf den Flur, zog sich aber wieder zurück, als er Sarai erkannte.
    Das Quartier, das Sarai mit ihrem Vater bewohnte, bestand aus drei Zimmern. Ungewöhnlich genug für nur zwei Menschen. Selbst als ihre Mutter noch lebte, war die Unterkunft im Vergleich zu jenen vieler anderer Familien geräumig gewesen. Es hatte viele Neider gegeben, denn die meisten Menschen in der Judenstadt lebten auf engstem Raum. Acht, manchmal auch zehn Menschen teilten sich oft zwei Zimmer. Die Bedingungen waren entsetzlich.
    Sarais Großvater hatte die drei Räume einst gekauft. Vor Jahrzehnten war das noch üblich gewesen. Jeder erwarb seine eigene Unterkunft, was die Besitzverhältnisse einzelner Häuser vielfach aufsplitterte. Auch deshalb war es unmöglich, einige der baufälligen Gebäude abzureißen und neu zu errichten; es gab immer einzelne Besitzer im Haus, die sich gegen solche Pläne sträubten und sie damit zunichtemachten .
    Die drei Zimmer ihres Quartiers lagen nebeneinander. Es gab keinen Flur, man mußte jeden Raum durchqueren, um in den hinteren zu gelangen. Alle drei besaßen je ein Fenster zum Hof.
    Im vorderen Zimmer standen ein Tisch und drei Stühle. Die Sitzfläche eines davon war eingetreten. Neben einer Wasserschüssel stand schmutziges Geschirr aus Ton, jene Teile, die übriggeblieben waren. Sarais Füße ließen die Holzbohlen knirschen. Sie zuckte zusammen und fühlte sich schuldig, als gelte es, jemanden nicht beim Schlafen zu stören.
    Die Tür zur zweiten Kammer war offen. Sarais Bett stand in einer Ecke. Bis zur Plünderung hatten sie den restlichen freien Raum benutzt, um allerlei Gerumpel aufzustapeln, das im Augenblick niemand benötigte, irgendwann aber wieder von Nutzen sein mochte. Die Soldaten hatten das meiste davon aus dem Fenster geworfen, ohne es zu öffnen. Durch die zerschlagene Scheibe wehte ein eisiger Luftzug herein.
    Überhaupt war es ungewöhnlich kalt. Der Ofen stand im dritten Zimmer, dort, wo ihr Vater schlief und sich auch den Tag über aufhielt. Für gewöhnlich reichte die Wärme des Feuers aus, um auch die übrigen Räume zu heizen. Trotz des zersplitterten Fensters hätte davon etwas zu spüren sein müssen. Aber da war nichts, nur beißende Kälte. Die Glut mußte schon am Morgen erloschen sein.
    Die Tür zum Hinterzimmer war angelehnt. Vorsichtig streckte Sarai eine Fingerspitze aus und legte sie sanft an das Holz.
    »Vater?« fragte sie noch einmal, diesmal flüsternd. Ihre Stimme klang merkwürdig, fast fremd. Es tat ihrleid, daß sie überhaupt gesprochen hatte. Der ungewohnte Klang vertiefte nur ihre Unruhe.
    Als erneut keine Antwort kam, drückte sie die Tür auf. Das Holz schlug gegen irgend etwas, das dahinter am Boden lag, und drückte es beiseite. Es war ganz still im Zimmer. Keine Kerze brannte.
    Sarais erster Blick glitt hinauf zur Decke. Sie wunderte sich über sich selbst. Vielleicht war es die Angst, er könnte sich in seiner Trauer erhängt haben. Aber ihr Vater war strenggläubiger Jude, wenngleich er seit langem keine Synagoge mehr besucht hatte. Freitod war für ihn undenkbar. Sarai faßte diese Gedanken mit völliger Klarheit ,

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