Der Schattenesser
beinahe unbeteiligt. Und es hing auch niemand an der Decke.
Als nächstes schaute sie auf den Boden. Da lagen Gegenstände, doch es waren keine Spuren der Plünderung. Sie hatten noch in der letzten Nacht alles, was ihnen geblieben war, aufgeräumt und an seinen Platz gestellt. Was jetzt dort lag, war erst heute zu Boden geworfen worden. Das, wogegen die Tür geschlagen hatte, war ein siebenarmiger Leuchter. Er war aus billigem Kupfer und hatte für die Söldner keinen Wert besessen, deshalb hatten sie ihn hiergelassen.
Mehrere Kerzen, die meisten halb heruntergebrannt, lagen über den Boden verstreut. Wachstropfen waren auf dem Parkett geronnen, die Kerzen mußten also gebrannt haben, als sie von der Kommode gefegt worden waren. Ein zersplitterter Weinkrug lag wie ein zertretener Riesenkäfer unter dem Fenster. Der Inhalt des bauchigen Gefäßes hatte sich über den Boden ergossen und war in den Fugen zwischen den Brettern versickert. Der schwere Geruch von Wein hing in der Luft. All das waren die Utensilien der einsamen Sabbatfeier, die ihr Vater für sich allein abgehalten hatte. Auf der Kommode stand noch eine Tasse mit Wasser für das rituelle Händewaschen, außerdem lagen da zwei winzige Brote. Eines war zur Hälfte verzehrt. Sarais Vater mußte den Kiddusch, den Sabbatsegen, darüber gesprochen haben. Allein auf die drei festlichen Mahlzeiten, die eigentlich vorgeschrieben waren, hatte er aus Armut verzichten müssen .
Trauer schnürte Sarai die Kehle zu. All die Dinge, auf die ihr Vater stets so viel Wert legte, lagen nun achtlos am Boden verstreut. Sie hätte ihn an diesem Tag nicht verlassen dürfen, nicht am Sabbat. Die Feier bedeutete ihm soviel.
Sie machte einen weiteren Schritt in das Zwielicht des Zimmers hinein. Der hohe Lehnstuhl stand mit dem Rücken zur Tür.
Sie spürte plötzlich, daß da jemand war.
Nicht im Sessel.
Hinter ihr!
Sarai wirbelte herum, hielt dabei abwehrend beide Arme vor den Körper. Ein erschrockenes Keuchen drang aus ihrer Kehle.
Aber da war nichts. Die Schatten waren dunkel, fast schwarz, doch es gab niemanden, der sich in ihnen verbarg. Trotzdem glaubte sie einen Herzschlag lang die Anwesenheit eines weiteren Menschen zu spüren.
Sie mahnte sich selbst zur Ruhe. Sie war völlig überreizt. Der Schrecken, den ihr die Söldner eingejagt hatten, steckte ihr noch immer tief in den Knochen.
Und doch blieb ihre Unsicherheit. Sie hätte schwören können, daß da jemand im Zimmer hinter ihr gewesen war. Sie hatte nichts gehört, nichts gesehen. Es war vielmehr das Gefühl, als hätte sich ihr ein anderer von hinten genähert und sich gleich darauf in Luft aufgelöst.
Sie atmete tief durch und ging langsam auf den Lehnstuhl zu. Sie konnte noch immer nicht sehen, ob jemand darin saß.
War das etwa leises Atmen, das sie jetzt hörte? Eher ein rasselndes Keuchen. Mit einem schnellen Satz sprang sie um den Stuhl herum.
Ihr Vater saß aufrecht da und preßte mit beiden Armen ein großes Kissen vor seinen Oberkörper, eine liebevolle Umarmung, als wollte er es sanft hin- und herwiegen wie ein Kind.
Er trug das Lieblingskleid ihrer Mutter. Der Saum reichte ihm gerade bis zu den Waden. Er war barfuß, wahrscheinlich nackt unter dem Kleid. Sarai beugte sich zu ihm hinunter, aber er blickte durch sie hindurch zum Fenster. Sein Atem klang mühsam und krank.
»Vater, was ist mit dir?« fragte sie mit bebender Stimme.
Das Kissen, das er an seinen Oberkörper preßte, war einst von ihrer Mutter mit einem aufwendigen Muster bestickt worden. Das Messer eines Plünderers hatte es aufgerissen, die Füllung aus Lumpen hing heraus wie bunte Eingeweide.
Tränen schössen in Sarais Augen. Ihr Vater regte sich nicht , nur sein Atem rasselte leise. Das schwarze Haar klebte ihm strähnig an der Stirn, seine Wangen waren unrasiert und eingefallen. Ihre Mutter hatte erzählt, er sei einst ein schöner Mann gewesen. Das war lange her.
»Vater? Warum sagst du nichts?« Sarai begann leise zu weinen, aber die Tränen brachten keine Erleichterung. Es gab ja keinen Grund zu weinen. Ihr Vater war doch hier. Er lebte. Sie mußte nicht um ihn trauern.
Doch tief im Inneren kannte sie die Wahrheit. Sie kannte sie, bevor sie das Kissen aus seiner Umarmung löste und den Messergriff entdeckte, der aus seiner Brust ragte.
Es war ein gewöhnliches Küchenmesser. Sie zweifelte nicht mehr, daß er selbst es sich in den Leib gestoßen hatte.
Plötzlich öffnete ihr Vater zitternd den Mund. »Zieh ... zieh
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