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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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irrten hilflos umher. Aus einigen Häusern qualmte es, die Feuer aber waren gelöscht. Es roch nach Asche und verbranntem Fleisch. Die Ligasöldner, die in den Gassen Wache standen, wirkten nicht weniger verstört als die Bewohner der Judenstadt. Es war der Morgen nach dem Alptraum, doch seine Nachtmahre waren hinüber in die Wachwelt gekrochen.
    Nadeltanz begann seinen Bericht. Er sprach von Michal, dessen Namen er kannte, und seiner Begegnung mit dem Hühnerhaus, von dem er ebenfalls wußte. Sarai fragte nicht, woher. Cassius hatte ihr von Nadeltanz'
    Macht über das Reich der Ursachen erzählt. Auf seine Art war er ein Gott. Er wußte, was er wissen wollte.
    »Erinnerst du dich an die Legende des Palais Siebensilben?« fragte er, als wollte er ihr Gelegenheit geben, ihre Stimme wiederzufinden.
    Sarai nickte schwach. Erst vor Tagen hatte sie darüber nachgedacht, als sie sich vor den Söldnern verbarg, die vor dem Palais lagerten. Es schien ihr, als seien seither Wochen vergangen.
    »Es ist wahr, was man sich in der Stadt erzählt«, sagte Nadeltanz. »Die Arbeiter haben den Herrn des Palais gesucht, und sie haben ihn nirgends gefunden. Der Grund aber war nicht, daß er sich versteckt hielt. Vielmehr hat es ihn nie gegeben. Zumindest nicht so, wie die Tagelöhner ihn sich vorstellten. Jene, die das Palais planten und entwarfen, hatten den Auftrag dazu auf andere Weiseerhalten. Von einer anderen Macht.«
    »Von Gott?«
    »Von Gott oder einer Sefira. Du ahnst jetzt, wer die Schechina war, die du gesucht hast?«
    »Die Alte vom Hühnerhaus?« Nadeltanz nickte. »Es wird so vieles über sie erzählt.
    Gottes Tochter, die er der Welt zur Gemahlin gab. Sicher ist das die schmeichelhafteste Beschreibung. Aber es gibt auch andere. Einst wurde sie selbst als Göttin verehrt, vor Jahrtausenden. Sie war die Große Mutter, und die Menschen beteten sie an, zeichneten ihr Bild auf Höhlen-wände und schnitzten es in die Balken ihrer Hütten. Später wurde sie in manchen Teilen der Welt zur Baba Jaga, der Herrin des Hühnerhauses, schließlich gar zur Hexe. Stets hat sich die Schechina in ihre Rolle gefügt, war malgroßherzig und edel, mal schlecht und verschlagen. Äonen lang zog sie durch die Welt und mühte sich, das Wesen der Menschen zu begreifen, jener Wesen, in deren Gesellschaft sie gegen ihren Willen verbannt war.
    Jene aber, die über ihr steht, die Sefira Malchut, kennt Vergangenheit und Zukunft, und sie wußte, daß es eines besonderen Ortes bedurfte, um die Fäden des Schicksals zusammenzuführen. Das Palais Siebensilben wurde errichtet, damit ihr dort aufeinandertrefft. Es war niemals mehr als eine Arena, eine schlichte Kulisse - für diese einzige Nacht.«
    Sarai hörte schweigend zu. Sie war froh, daß es irgendeine Erklärung gab, ganz gleichgültig, welche.
    »Die Sefira Malchut darf nie willkürlich in den Lauf der Welt eingreifen, und niemals auf Wunsch eines Menschen«, fuhr Nadeltanz fort. »Ihre Natur als waltende Hand Gottes gebot ihr, den Schattenesser nur unter einer Bedingung zurückzurufen: Die Schechina mußte sie darum bitten. Jene aber hätte dies in ihrer Inkarnation als Hexe vom Hühnerhaus nicht getan, ohne daß es ihr selbst zum Vorteil gereichte. Doch als die Schechina sich in der Seele des unglücklichen Michal einnistete, lieferte sie sich ungewollt dem mal'ak Jahve aus - mit der Zerstörung von Michals Schatten und seiner Seele wäre auch die Schechina zugrunde gegangen. Ein guter, nein, der beste Grund, die Sefira Malchut um Hilfe zu bitten. Somit war es jener endlich gestattet, das Treiben desmal 'ak Jahve zu beenden, so, wie sie es von Anfang an gewollt, aber nicht gedurft hatte.
    Am Ende war alles ganz einfach: Der Bote bedrohte die Seele Michals und damit die Schechina, die Schechina wiederum flehte Malchut an, zog sich aber rechtzeitig aus ihrem Sklaven zurück. Während Malchut den mal'ak Jahve zurückrief, gelang es diesem tatsächlich noch, den Schatten des Jungen zu zerstören. Die Schechina hatte also gut daran getan, ihn aufzugeben. Ich nehme an, diese Niederlage wird sie für viele Generationen schwächen und zur Untätigkeit verdammen - im guten wie im bösen.«
    Sarai gab sich kaum noch Mühe, seinen verschlungenen Ausführungen zu folgen.
    Nadeltanz lächelte verschmitzt. »Ich habe mir erlaubt, an einer Stelle einzugreifen. Sehr zaghaft, versteht sich. Der Fürst Siebenbürgens und seine Vertraute bekamen ebenfalls ihre Rollen zugewiesen. Als sie nach einer Möglichkeit

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