Der Schattenesser
Gedanken gemacht.
Cassius sann einen Augenblick nach, blickte sich dann um und zeigte auf einen schmalen Uferstreifen, der etwa hundert Schritte vor ihnen lag. Der Boden war dort lehmig und ohne einen Grashalm. Die Uferstraße machte einen weiten Bogen um diese Stelle und war hinter dichtem Strauchwerk verborgen. Der ungenutzte Fleck am Fluß wirkte wüst und abstoßend, der Lehmboden war grau und glitschig. Als sie näher kamen, sah Sarai, daß sich in den Pfützen dichte Knäuel aus Würmern suhlten.
»Hier hat Gott eine Ausnahme gemacht«, bemerkte Cassius.
»Was meinst du?«
»Es heißt doch, nur er allein könne Leben erschaffen.«
»Und?«
»Nun, an diesem Ort hat ein Mensch Gottes Wort außer Kraft gesetzt.« Cassius klang beinahe triumphie
rend, als sei dies das höchste aller Ziele. »Hier, mein Kind, erschuf der Rabbi Löw den Golem.« Sarai lächelte höflich. »Das ist nur eine Legende, jeder weiß das.«
»Lieber Himmel«, entfuhr es Cassius aufgeregt, »so schnell geht das? Kaum zwanzig Jahre sind verstrichen, und schon glaubt niemand mehr an das, was wir doch alle mit eigenen Augen sahen? Eine Schande ist das, in der Tat. Natürlich erschuf der Rabbi den Golem, und jedes Wort, das du darüber gehört hast, ist wahr.«
Sie hob gleichgültig die Schultern. »Es wird kaum noch davon gesprochen, und die Rabbiner schweigen völlig darüber.«
»Dann will ich dir erzählen, was passiert ist.«
»Oh, Cassius, muß daß sein? Gibt es nicht Wichtigeres, über das wir ...«
»Nein«, unterbrach er sie barsch. »Es gibt nie etwas Wichtigeres als die alten Geschichten, schon gar nicht, wenn sie wahr sind. Es darf nicht sein, daß du sie nicht kennst.« Er senkte geheimnisvoll die Stimme. »Und wiekannst du es mit der einen Ausnahme Gottes aufnehmen wollen, wenn du nichts über die andere weißt?«
Erstaunt starrte sie ihn an. »Wie meinst du das nun wieder?«
»Still jetzt! Unterbrich einen alten Mann nicht, wenn er zu dir spricht. Haben sie dich das nicht in der Synagoge gelehrt?«
Sie zuckte ergeben mit den Achseln und schwieg.
»Also«, begann Cassius, nachdem sie sich im Gras mit Blick auf den öden Lehmstreifen niedergelassen hatten, »ich will dir berichten, was damals geschah. Die Menschen der Prager Judenstadt lebten immer schon in großer Furcht vor ihren christlichen Nachbarn in den umliegenden Vierteln. Oft kam es zu Übergriffen und Erstürmungen einzelner Häuser, ja, sogar zu Massenmord und Verbrennungen. Ich glaube, zumindest das weißt du.«
Sie nickte gedemütigt.
»Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts«, fuhr er fort, »häuften sich die Fälle, in denen Christen die Leichen Ermordeter in die Judenstadt schmuggelten und später behaupteten, die Juden hätten sie getötet. Immer noch wirft man euch gerne vor, bei euren Riten in der Synagoge Menschen zu opfern.«
»Das ist Unsinn.«
»Natürlich ist das Unsinn, aber manch einer glaubt gerne daran, vor allem jene, die Schulden bei jüdischen Pfandleihern haben. Es war immer schon ein einfacherer Weg, jene, denen man Geld schuldet, zu denunzieren, als ihnen die Summe zurückzuzahlen. Der Vorwurf des Menschenopfers ist seit jeher ein beliebter Weg, deine Brüder und Schwestern beim Kaiser in Mißkredit zu bringen.
Nun, wie gesagt, gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts kam es immer öfter vor, daß die Leichen toter Christen in der Judenstadt gefunden wurden, und so wandten sich die Menschen angstvoll an ihren Oberrabbiner, den berühmten Rabbi Löw. Jener hatte Jahrzehnte mit dem Studium der Kabbala verbracht, aber auch die großen Werke der Magie studiert. Und so versprach er den Menschen Hilfe.
Der Rabbi Löw war keiner, dem solche Worte leichtfertig über die Lippen kamen. Er betete bis tief in die Nacht hinein, flehte Jahwe um einen Traum im Schlaf an und um einen Rat im Traum. Erst als der Morgen graute, fielen ihm die Augen zu, und sogleich kroch ein Traumgespinst unter seine Lider und verkündete ihm: >Schaffe aus Lehm einen Golem, schaffe einen künstlichen Menschen! Er wird euch gegen den Haß eurer Feinde beistehend
Gleich, nachdem der Rabbi erwacht war, rief er den besten seiner Schüler und seinen Schwiegersohn in sein Haus. Er erklärte den beiden, was ihm der Himmel im
Schlaf geraten hatte, und daß es zu diesem Zweck der vier Elemente bedürfe: Erde, Wasser, Feuer und Luft. >In mir selbst<, so sprach er, >spüre ich die Macht der Luft. Du, Schwiegersohn, sollst das Feuer in dir tragen, und du, mein Schüler,
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