Der Schattenesser
sein Unbehagen nicht zu überspielen. »Es sieht ganz so aus, als sei außer der Liga eine weitere Gefahr über die Stadt gekommen.« Er stockte, dann fuhr er fort: »Irgend etwas schleicht durch die Gassen und raubt den Menschen ihre Schatten, Sarai, und ich habe nicht die mindeste Vorstellung, was es sein könnte.«
Vor Erstaunen wäre sie beinahe mitten auf der Brücke stehengeblieben. Cassius zog sie im letzten Augenblick mit sich, ehe einem der Wachtposten dieser Gesetzesverstoß auffallen konnte.
»Du meinst das ernst, nicht wahr?« fragte sie unsicher.
»Völlig ernst.«
»Also eine Art Mörder von Schatten.«
»So könnte man es wohl nennen.«
»Und du erwartest, daß irgendwer dir das glaubt?«
»Nein. Das ist auch nicht nötig.«
»Dann willst du einfach abwarten und zuschauen, was passiert?«
Er hob die Schultern. Sein buntes Gewand flatterte in einem eisigen Windstoß. »Ich bin vor allem Alchimist, mein Kind. Ich verstehe mich auf die Natur der Stoffe, auf Substanzen und Mischungen.«
»Du bist Mystiker.«
»Und deshalb blicke ich in mich selbst und nicht nach außen.«
»Cassius«, mahnte Sarai ihn eindringlich, »mein Vater ist tot. Dein Schattenmörder hat das getan.«
»Du wirkst nicht sonderlich niedergeschlagen«, stellte er fest.
Nun blieb sie tatsächlich stehen. »Du ...«, begann sie , dann quollen Tränen aus ihren Augen. »Wie kannst du...«
»He!« schrie einer der Wachtposten am nahen Westufer. »Weitergehen!«
Cassius packte Sarai am Wams und riß sie vorwärts. »Nun komm schon, so habe ich das nicht gemeint.«
Sie schwieg, wußte nicht, was sie sagen sollte. Das schlimmste war: Vielleicht hatte Cassius recht. Was war los mit ihr? Sie weinte, sie war bedrückt, aber reichte das aus, um einen Menschen zu betrauern? Herrgott, er war ihr Vater gewesen. Sie fühlte sich undankbar und schlecht, nicht nur ihm gegenüber, sondern auch vor ihrer Mutter - sie hätte nicht gewollt, daß es soweit mit Sarai und ihrem Vater kommen würde. Bis zu ihrem Tod war alles anders gewesen.
Unter den mißtrauischen Blicken der Wachsoldaten verließen sie die Brücke und betraten die Kleinere Stadt. Statt aber den Weg zum Hradschin hinauf einzuschlagen, führte Cassius sie hinunter zum Ufer der Moldau, weit genug von der Brücke entfernt, um unverdächtig zu bleiben. Dort schlenderten sie am Wasser entlang, jeder in seine Gedanken vertieft. Das Flußufer war einer der sichersten Bereiche Prags. Hier gab es nichts, das sich zu plündern lohnte, deshalb verirrten sich kaum Söldner hierher.
»Du mußt etwas tun«, brach Sarai schließlich das Schweigen. Sie blickte über den grauen Fluß hinweg zur anderen Seite. Die Sonne war hinter Wolken verborgen, und die Dächer hatten ihren goldenen Glanz verloren.
Der vielbesungene Zauber Prags war verblaßt oder verbarg sich in den Gassen und Höfen.
»Ich bin ebenso machtlos wie jeder andere«, sagte Cassius. »In wessen Macht kann es liegen, einen Schatten zu töten?«
Er gab keine Antwort. Er wußte keine.
Sarai gab nicht auf. »Ein Teufel? Ein Dämon? Sicherlich kein Mensch.« »Du hast eine niedrige Meinung von uns Menschen«, stellte er fest.
»Nicht niedriger als vom Tier.«
»Du hättest deinem Rabbi besser zuhören sollen«, setzte er entgegen. »Der Mensch steht seit seiner Schöpfung zwischen Himmel und Erde, zwischen Engel und Tier. Alle Wesen, die vom Himmel erschaffen wurden, nämlich die Engel, haben ihre Körper und Seelen allein von Gott. Die Wesen aber, die von der Erde geschaffen wurden, also die Tiere, haben Gestalt und Seele von der Erde. Der Mensch aber steht zwischen ihnen: Er hat den Körper von der Erde und die Seele vom Himmel.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Dann sollte man meinen, nur der Himmel kann ihm die Seele wieder nehmen.« Er schenkte ihr einen erstaunten Blick. »Was sagst du da?«
»Heißt es nicht, Gott gibt, und Gott nimmt auch wieder? Wenn er also unsere Seele erschaffen hat, müßte er sie dann nicht auch wieder nehmen können?«
»Das ist das Wesen des Todes«, entgegnete Cassius.
Sarai sah mit Genugtuung, daß sie ihn zum Grübeln gebracht hatte. »Die Bibel lehrt, daß Gott keine Ausnahmen duldet«, fuhr sie fort. »Weshalb also sollte er bei dem, was jetzt geschieht, eine machen? Vielleicht ist wirklich er derjenige, der den Menschen die Schatten raubt.« Sie war erstaunt über ihre eigenen Worte. Ihr war fast , als kämen sie nicht aus ihrem eigenen Mund. Nie zuvor hatte sie sich solcherlei
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