Der Schattenesser
Anschlag der Christen abgewendet haben. Man sagt, bei einigen dieser Rundgänge habe der Rabbi Löw ihn unsichtbar gemacht, aber ich glaube kein Wort davon. Auch der Rabbi vermochte nur das, wozu der Himmel ihm Macht verlieh, und ich kann mir nicht denken, daß der Herrgott einen Sinn für derlei Gaukelwerk hat.«
Sarai streckte ihre steifgewordenen Glieder. Sie mochte noch immer nicht an das glauben, was Cassius ihr da weismachen wollte. »Was aber ist aus dem Golem geworden?« fragte sie mit leisem Spott. »Streift er noch heute durch die Gassen?«
»Er schläft«, entgegnete Cassius ernsthaft. »Nachdem er die Juden einige Jahre lang beschützt hatte, schloß Rabbi Löw mit Kaiser Rudolf auf dem Hradschin ein Abkommen. Die Beziehungen zwischen Christen und Juden besserten sich, zumindest ein wenig, und die Dienste des Golem waren nicht länger vonnöten. Also befahl der Rabbi ihm, sich auf den Speicher der Altneu-Synagoge zurückzuziehen. Dort senkte er einen magischen Schlaf über sein Geschöpf, und da oben muß er noch immer liegen, in einer verborgenen und fest verschlossenen Kammer. Es heißt, er wache erst wieder auf, wenn der Judenstadt erneute Gefahr droht, so, wie der Rabbi es ihm aufgetragen hat.«
»Der Arme«, sagte Sarai mit gespieltem Mitleid. »Kein echtes Leben, nicht einmal ein Name. Immer nur >der Golem<.«
»Nicht ganz«, erwiderte Cassius kopfschüttelnd. »Der Rabbi gab ihm sehr wohl einen Namen: Er nannte ihn Josef.«
Sarai seufzte. »Da hat er sich ja wirklich Mühe gegeben.«
Sie stand auf und blickte übers Wasser hinweg zum anderen Ufer. Menschen gingen dort auf und ab. Sarai konnte nicht erkennen, ob es feindliche Söldner oder Bürger der Stadt waren. Ihre Geschäftigkeit berührte etwas in ihr. Sie hatte genug von den Erzählungen des Alchimisten, und mit einem mal fand sie zurück zu ihrer Trauer. Das Gefühl überkam sie schlagartig, ganz unerwartet, und Tränen traten ihr in die Augen. Wieder starrte sie auf die winzigen Gestalten am fernen Ufer. Zwei von ihnen trafen aufeinander und fielen sich erfreut in die Arme, vielleicht Freunde, die einander nach der Niederlage totgeglaubt hatten. War das etwa Lachen, das über den Fluß herüberdrang?
Sarai verspürte plötzlich Zorn. Zorn auf eine Welt, die trotz ihrer Trauer kein elendes Gesicht machte.
Sie verbrachte die Nacht im Mihulka-Turm, auf dem Boden unter Saxonius' Papageienkäfig. Sie schlief auf einer
Decke, und es war kalt und ungemütlich; trotzdem wollte sie Cassius bitten, fortan bei ihm bleiben zu dürfen. Bis zum Abend hatte sie noch nicht gewagt, ihren Wunsch auszusprechen, doch gleich morgen früh wollte sie ihre Bitte vorbringen. Sie war keineswegs sicher, was Cassius antworten, wie er sich entscheiden würde, und doch hatte sie kein schlechtes Gefühl dabei. Hier oben im Turm, als Schülerin des alten Alchimisten, wäre sie geborgen. Und welchen Unterschied würde es schon zu den vergangenen Wochen machen? Allein den, daß sie zukünftig auch auf dem Hradschin schlafen würde und sich nicht mehr den Gefahren des Heimweges aussetzen mußte.
Saxonius verfiel in ein beruhigendes Gurren, ein merkwürdiger Laut, den sie noch nie von ihm gehört hatte. Vielleicht träumte er. Vermochten Tiere überhaupt zu träumen? Sie würde Cassius danach fragen.
In der Nacht glaubte Sarai zu erwachen. Durch das Schießschartenfenster der runden Turmkammer drangen Lärm und Geschrei herein. Sie kroch unter ihrer Decke hervor und blickte nach draußen.
Der Turm stand jetzt inmitten der Judenstadt, als hätte er sich wie ein steinerner Vogel vom Berg erhoben und ins Gewirr der Gassen herabgesenkt. Von hier aus konnte Sarai in alle Straßen und Höfe blicken, selbst die Dächer mancher Häuser schienen ihr so klar wie Glas. Jede Einzelheit des Geschehens, das sich dort unten abspielte, stand ihr deutlich vor Augen.
Die Christen stürmten die Judenstadt.
Sarai wußte, daß es nicht wirklich geschah, daß ihr der Traum einen Blick auf Vergangenes gewährte. Sie wurde Zeugin eines Massakers, das Rabbi Kara vor Jahrhunderten in die Verse seiner Selicha gekleidet hatte. Die Elegie wurde oft in der Synagoge verlesen:
Wer schildert das Leid, das uns geschah ...
Pfaffen in weißen Gewändern auf weißen Pferden, Schaumkronen auf der kreischenden Christenflut, die wogend durch die Gassen strömt. Wellen, die sich an Hausmauern brechen und durch Türen und Fenster ins Innere quellen. Hände, die hilflose Menschen auf die Straßen
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