Der Schattenesser
ertragen.
»Ich weiß nicht, woher dieses Phänomen rührt«, entgegnete er leise und überaus sachlich, »aber dein Vater ist nicht der einzige, den es betrifft.« Er sagte das so nüchtern, als ginge es nicht um einen Toten, gar um den Tod von Sarais Vater, sondern allein um eine staunenswerte Entdeckung.
»Aber ... so etwas kann es doch gar nicht geben«, widersprach sie und setzte seiner Sachlichkeit die Kraft des Gefühls entgegen.
»Du hast es selbst gesehen«, sagte er und gab ihr durch seinen Ton zu verstehen, daß alle Zweifel angesichts der Tatsachen sinnlos waren. Der Schatten war fort.
Sie schüttelte stumm den Kopf. Schließlich bat sie ihn:
»Erklär es mir.«
»Das kann ich nicht«, gestand er seufzend. »Ich würde es, glaube mir, aber ich weiß nicht, was der Grund ist. Fest steht allein, daß es anderen ähnlich ergangen ist und daß auch dein Vater schon länger davon betroffen war.«
Damit provozierte er zwei Fragen auf einmal, doch Sarai entschied sich zuerst für jene, die ihr dringlicher erschien. »Du glaubst, sein Schatten sei nicht erst heute nacht verschwunden?«
»Sein Verhalten in den letzten Wochen, so wie du es mir geschildert hast, scheint mir dafür zu sprechen.«
Tatsächlich hatte sich der Zustand ihres Vaters, seine Gleichgültigkeit und Trägheit, seine Unfähigkeit, für sich selbst, geschweige denn für seine Tochter zu sorgen, in der letzten Zeit verschlimmert.
»Aber was hat das mit seinem Schatten zu tun?« wollte sie wissen. »Komm, laß uns erst gehen«, sagte er. »Willst du die Obrigkeit verständigen?«
»In diesen Tagen?« Häme sprach aus dem Klang ihrer Stimme . »Ganz Prag liegt im Sterben, die Liga mordet an jeder Straßenecke. Glaubst du wirklich, jemandem liege etwas am Schicksal eines Selbstmörders?«
»Was also willst du tun?«
Sie überlegte kurz, dann sagte sie nur: »Hilf mir dabei«, und trat zurück vor den Lehnstuhl. »Wir legen ihn aufs Bett, in seiner eigenen Kleidung. Die Nachbarn werden ihn finden und den Rabbi rufen. Er wird alles in die Wege leiten.«
Cassius sah wohl ein, daß dies eine vernünftige Lösung war und machte sich daran, ihr zur helfen. Eine Weile später lag Sarais Vater ordentlich gekleidet auf seinem Bett. Es sah aus, als schliefe er.
»Man wird sich wundern, warum alles voller Blut ist, außer seiner Kleidung«, gab Cassius zu bedenken.
»Mag sein«, erwiderte sie knapp.
Sarai konnte nicht anders. Sie hatte mit all dem hier abgeschlossen. Ihr Vater, so es für ihn ein weiteres Leben geben mochte, war längst anderswo. Sie fühlte keine Verpflichtung ihm gegenüber. Später sollte sie sich über diese merkwürdige Empfindung wundern. In diesem Augenblick aber stand ihr alles ganz klar vor Augen. Andere würden sich kümmern. Sollten sie von ihr aus auch die Zimmer in Besitz nehmen. Sarai war es gleichgültig. Man würde nicht einmal nach ihr suchen. Es war nicht ungewöhnlich, daß Menschen von einem Tag auf den anderen verschwanden, vor allem junge Mädchen, vor allem in diesen Zeiten.
Sie öffneten alle Fenster, ließen die Tür angelehnt und gingen eilig hinab auf die Straße. Erst nachdem sie eine gehörige Strecke zwischen sich und Sarais einstiges Zuhause gebracht hatten, kam die Sprache wieder auf den verschwundenen Schatten.
»Du wolltest wissen, was das Verhalten deines Vaters mit seinem Schatten zu tun hat, nicht wahr?« sagte Cassius, während sie eine menschenleere Gasse hinabgingen.
»Ja.«
Cassius räusperte sich betont, ein Anzeichen dafür, daß er weit auszuholen gedachte. »Nach altem Volksglauben lebt die Seele eines Menschen in seinem Schatten«, erklärte er. »So ist sie tags an seiner Seite, im Schlaf aber geht sie mit dem Schatten auf Wanderung und verläßt ihren Besitzer. Unsere Ahnen waren von diesen Dingen überzeugt, und auch heute scheint mir wenig dagegenzusprechen. Selbst Luther sagte: Wenn ein Verbrecher zum Henker geführt wird, soll statt seiner sein Schatten getötet werden, den Mann selbst aber möge man des Landes verweisen. Luther war der Ansicht, der Schuldige sei damit schrecklich genug bestraft.«
Sarai unterbrach ihn: »Die Rabbiner lehren uns Juden, daß der Schutzengel eines Menschen in seinem Schatten wohnt.«
»O ja«, bestätigte Cassius, »ein Glaube, der auf der Wurzel dessen fußt, was ich gerade sagte. Seele und Schutzengel sind oftmals ein- und dieselbe Macht.«
»Und mein Vater hat seine Seele verloren?« fragte sie zweifelnd. Zwar schienen ihr Cassius'
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