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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zerren oder mit Schlingen um den Hälsen von Dächern stürzen. Überall Tote, die vor den Mauern hängen. Frauen mit ausgerissenem Haar, blutüberströmt und nackt, die ziellos durch die Gassen fliehen, fort von dem feindlichen Pöbel, unfähig zu weinen und zu schreien, mit ungläubigen, fassungslosen Blicken. Sensen und Hämmer und schärfe Äxte, niedergeschwungen auf jüdische Kinder. Sterbende Männer, Mistgabeln in den Bäuchen, winselnd im eigenen Blut.
    Flammen lecken aus zerborstenen Türen, reißen Dachstühle in die Tiefe. Feuersbrünste braten die Betenden in den Synagogen, fauchen lodernd über die heiligen Schreine. Verzweifelte auf den Plätzen, die sich mit Stöcken und Steinen wehren, niedergerissen vom Haß ihrer Gegner, geprügelt und mit Beilen erschlagen, zertrampelt zu blutigem Totenbrei.
    Ganze Fassaden und Häuserblöcke, umlodert von weißgelben Feuerkaskaden, als stoße die Hölle aus derErde empor.
    Und davor die schreienden Christenbälger, die mit Gedärmen Springseil spielen.
    Sarai fuhr hoch und stieß mit dem Kopf gegen Saxonius' Käfig.
    »Cassius! Cassius!« kreischte der Vogel. »Der Teufel kommt, dich zu holen!«
    Sarais Blick raste zum Fenster. Davor nichts als Dunkelheit. Kein lodernder Feuerschein, keine Schreie, kein Morden.
    »Der Teufel kommt! Der Teufel kommt!« Irgend etwas flog quer durch den Raum und prallte scheppernd gegen den Käfig. Cassius' Hausschuh.
    »Halt's Maul, alte Krähe!« brummte der Alte unter seiner Decke hervor, irgendwo in der Finsternis auf der anderen Seite der Kammer.
    »Der Teufel kommt! Der Teufel kommt!«
    Der zweite Hausschuh segelte heran und brachte den Vogel zum Schweigen. Erschrocken steckte er den Kopf unter seinen linken Flügel und rührte sich nicht mehr.
    »Es war meine Schuld«, sagte Sarai mit dünner Stimme.
    »Schlaf weiter«, knurrte Cassius.
    Sie hörte, wie er sich herumwälzte. Schon nach wenigen Augenblicken war sein Atem langsam und regelmäßig. Er war wieder eingeschlafen.
    Sarai schob die Decke von ihren nackten Beinen, stand auf und trat ans Fenster. Der Riegel klemmte, aber schließlich bekam sie ihn auf. Kälte drang ihr aus der Novembernacht entgegen. Von hier aus blickte sie hinab in den verlassenen Königsgarten. Mondlicht umrahmte die kahlen Baumkronen. Sarai blickte über die Stadtgrenze hinaus ins weite Land. Da draußen, auf der anderen Seite der verschlossenen Stadttore, war die Freiheit. Sie hätte viel dafür gegeben, Prag verlassen zu können. Aber sie war nicht verträumt genug, um jenseits der Mauern ihr Glück zu erhoffen. In Prag konnte sie immer noch etwas stehlen, wenn der Hunger zu groß wurde - das hatte sie mehr als einmal getan -, aber dort draußen war nichts als Felder und Wald und ein paar einsame Gehöfte. Sie fragte sich, ob der Krieg auch im Umland tobte, glaubte aber nicht daran. König Friedrich war gestürzt, der Kaiser hatte Böhmen zurückerobert; es wäre sinnlos gewesen, hätte er seinen Soldaten gestattet, auch das übrige Land zu verheeren. Nein, dachte Sarai, da draußen mußte Frieden herrschen.
    Sollte sie noch leben, wenn die Tore geöffnet wurden, dann würde sie vielleicht doch fortgehen. Ob sie ihr Essen auf den Prager Märkten stahl oder aus prallen Bauernscheunen, welchen Unterschied machte das? Vielleicht, nur vielleicht, wartete jenseits der Stadttore doch ein wenig Glück auf sie.
    Sarai beschloß, Cassius noch nicht zu fragen, ob er sie für immer bei sich aufnehmen würde. Erst einmal nur für einige Tage und Nächte, dann würde sie weitersehen. Die Gewißheit, einen guten Entschluß gefaßt zu haben, gab ihr neuen Mut und vertrieb die Schreckensbilder der nächtlichen Vision.
    Sie legte sich zurück auf ihr Lager, kuschelte sich unter die Decke. Ihre Gedanken wehten durchs Fenster in die Weite der Landschaft. Erfüllt von Hoffnung schwelgte sie in den Bildern ihrer Zukunft.
    Doch als sie einschlief, träumte sie wieder von Blut und Tod und von kreischenden Kindern im Feuerschein.
    Zum Frühstück gab es gebratenes Ei. Sarai hatte schon die Hälfte heruntergeschlungen, viel zu schnell und voller Gier, als Cassius fragte:
    »Weißt du, was du da ißt?« Sie sah erst ihn an und blickte dann auf das übrige Ei vor ihr auf dem Tisch. »Du meinst... ?« Weiter kam sie nicht. Plötzlich war ihr übel. Cassius nickte mit mildem Lächeln. »Das Ei der Hühnerfrau, ganz recht.«
    Sarai stöhnte und nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Wasserkrug. Sie spülte damit ihren Mund aus,

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