Der Schattenesser
Worte klangvoll und auf ihre Weise vernünftig, doch mit der Wirklichkeit des Todes hatten sie wenig gemein.
»Nun, weißt du, mein Kind, es war Aristoteles, der die drei Eigenschaften der Seele erkannt und beschrieben hat: Die erste ist der Drang zur Ernährung, wie man ihn bei Pflanzen, Tieren und Menschen antrifft. Er ist für die Selbsterhaltung jedes Lebewesens verantwortlich. Die zweite Eigenschaft ist das Begehrende, das Animalische, und wird somit vor allem den Tieren, aber auch vielen Menschen zuteil. Sie strebt das Wohlergehen des einzelnen an, vermeidet den Schaden und wirkt durch die fünf Körpersinne. Die dritte Eigenschaft der Seele findet man dagegen allein beim Menschen, denn sie ist die Vernunft, die Macht zu denken, sich zu erinnern und Urteil abzugeben.«
Sie näherten sich dem östlichen Brückenturm, und Cassius senkte seine Stimme. »Diese drei Fähigkeiten also - Selbsterhaltung, Streben nach Wohlergehen und die Vernunft -, schenkt uns laut Aristoteles die Seele. Und nun überlege gut, mein Kind: Hat dein Vater während der vergangenen Wochen nur von einem dieser Geschenke Gebrauch gemacht?«
»Nein«, erwiderte sie knapp, denn was Cassius unterstellte, war die volle Wahrheit. Einziges Merkmal ihres Vaters war zuletzt seine völlige Gleichgültigkeit gewesen. Er hatte sich weder um sein Wohlergehen noch um das eines anderen geschert, und Vernunft schien schon lange mehr kein Te il seines Wesens zu sein. Das Bild, das der Mystiker vor ihren Augen malte, gewann an Vollständigkeit, ja, sie glaubte ihm jetzt jedes Wort.
»Ich schließe daraus«, sagte Cassius, »daß dein Vater seine Seele verloren hatte. Demnach war sein Schatten längst verschwunden oder aber im Verschwinden begriffen.«
Sarai versuchte vergeblich, sich an Einzelheiten im Auftreten ihres Vaters zu erinnern. War da ein Schatten gewesen oder nicht? Sie wußte, sie würde die Antwort nicht finden. Selbst seine Züge verschwammen schon in ihrer Erinnerung. Und sie bezweifelte, daß sie bemerkt hätte , wenn ihr eigener Schatten verschwunden wäre. Nun blickte sie instinktiv zu Boden und bemerkte beinahe erleichtert, daß ihr Schatten artig neben ihr übers Pflaster huschte.
»Dann glaubst du«, fragte sie, »daß ein Mensch, der seinen Schatten und somit Seele und Schutzengel verliert, unweigerlich von eigener Hand sterben muß?«
»Wenn ihn seine Gleichgültigkeit dem eigenen Schicksal gegenüber nicht vorher in ein tödliches Unglück treibt-ja.«
»Aber, um Himmels willen, wie kann man denn etwas wie einen Schatten verlieren? Ich meine, er ist doch kein Schlüssel oder Schnupftuch.«
Cassius lachte. Sie traten jetzt durch das Tor des Brückenturmes . »Nein, das ist er zweifellos nicht. Und ich glaube auch nicht, daß man den Schatten durch eigene Nachlässigkeit verlieren kann.«
»Wie sonst?« fragte sie erstaunt.
Cassius gebot ihr mit einer versteckten Geste zu schweigen, bis sie die Wachtposten am diesseitigen Ufer passiert hatten. Erst, als sie das vordere Drittel der Brücke hinter sich gelassen hatten, gab er eine Antwort. Seine Stimme klang düster, beinahe unheilschwanger.
»Eine Macht jenseits seiner eigenen Kräfte muß deinem Vater den Schatten genommen haben.«
Sie schnaubte verächtlich. Allmählich gelangte sie an die Grenzen dessen, was sie zu glauben bereit war. » Was für eine ... Macht soll das sein?«
»Mir wäre wohler, wüßte ich darauf eine Antwort.«
»Du hast gesagt, andere hätten ein ähnliches Schicksal wie mein Vater erlitten.« Wieder wunderte sie sich über die Nüchternheit, mit der sie über die Ereignisse sprechen konnte. Ihre Gefühle taumelten in einem stetigen Auf und Ab; mal war sie von Trauer erfüllt, einen Herzschlag später von kühler Ruhe.
»Es gab andere«, sagte Cassius, aber ihm war sichtlich unwohl bei dieser Feststellung. »Ich habe sie nicht selbstgesehen, noch weiß ich, wer sie waren. Ich hörte nur, dass es geschehen ist.«
»Du verschweigst mir etwas, Cassius.«
»Ich würde dir mehr sagen, wenn ich könnte. Viele Geschichten von eigenartigen Begebenheiten schwirren durch den Hradschin. Manche höre ich, doch viele dringen zweifellos nie bis zu mir vor. Mein Wissen darüber ist in Wahrheit nur eine Sammlung von Gerüchten, richtigen und falschen.«
»Warum redest du um das herum, was du weißt?« fragte Sarai ungeduldig. In ihrer Lage konnte sie sich diesen Ton herausnehmen, fand sie.
Cassius schenkte ihr ein wohlwollendes Lächeln, doch es vermochte
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