Der Schattenesser
Stimmen. Hier irgendwo mußten die Frauen sein. Aus dem erregten Durcheinander zu schließen, das an ihre Ohren drang, hielten die ehrenwerten Damen eine Versammlung ab.
Am Ende des Flurs befand sich eine zweiflügelige Tür, nicht höher als alle anderen, aber breiter und mit prächtigen Einlassungen verziert. Dahinter mußte sich eine Art Festsaal befinden.
Sarai preßte ihr Ohr an das Holz und lauschte. Alles, was sie hören konnte, waren Gesprächsfetzen.
»Habt Ihr gesehen, wie er meine Käfer ansah? Ich glaube fast, er hat mich längst als die Seine erwählt...«
Aufgeregter Widerspruch aus vielen Mündern: »Warum solltest gerade du diejenige sein?« - »Vielleicht sind seine Räume nicht geheizt, meine Liebe, und er sucht Wärme an Eurer monströsen Brust.« - »Sie sind geheizt, das kann ich Euch versichern.« - »Woher wollt denn Ihr das wissen?«
Und so ging es in einem fort, mal von wildem Geschrei unterbrochen, wenn zwei der Edeldamen sich ganz unedel an den hochgetürmten Haaren rissen.
Sarais Zweifel wurden zur Gewißheit. Diese Weiber mochten fraglos gackern und kreischen wie Hühner, sonst aber schienen sie wenig gemeinsam zu haben mit dem merkwürdigen Wesen, das ihr unten in der Stadtbegegnet war.
Soeben hatte Sarai beschlossen, in den Mihulka-Turm zurückzukehren, als hinter ihr auf der Treppe Schritte laut wurden. Sie fuhr herum und blickte den Gang hinunter. Noch war niemand zu sehen. Der obere Treppenabsatz befand sich etwa fünfzehn Schritte von ihr entfernt. Die Stufen waren der einzige Weg, der nach unten führte. Falls wirklich jemand dort heraufkam, dann war ihr der einzige Fluchtweg versperrt. Blieb nur, sich in einem der angrenzenden Zimmer zu verstecken.
Hastig drückte sie die erstbeste Klinke hinunter. Die Tür war verschlossen. Ebenso die zweite. Und die dritte. Sarai geriet in Panik. Gleich würde ein Kopf über dem Treppenabsatz auftauchen und sie entdecken.
Auch die vierte Tür ließ sich nicht öffnen. Sarai erkannte, daß ihr nur noch eine Möglichkeit blieb.
Da - jetzt erschien jemand auf der Treppe, das junge Mädchen von vorhin. Es blickte Sarai erstaunt an und brauchte einen Augenblick, ehe es begriff, daß sie keineswegs hierher gehörte.
Sarai rannte los. Direkt auf das Mädchen zu.
Das junge Edelfräulein riß den Mund auf, um zu schreien. Sarai rammte es im selben Moment. Mit voller Wucht stieß sie ihre Schulter gegen das Mädchen und riß es nach hinten die Treppe hinab. Das Mädchen verlor den Halt, rutschte über die Stufenkante nach hinten ab und stürzte. Seine Beine verhedderten sich in dem langen Kleid. Polternd, ein Wirbel aus weißem Stoff und zerzaustem, blondem Haar, fiel es hinterrücks nach unten.
Sarai war zuvor an dem stürzenden Edelfräulein vorbeigehuscht und sprang nun vor ihr her die Stufenhinunter. Etwas klimperte zu ihren Füßen, und sie entdeckte den großen Schlüssel für die Haustür, der dem Mädchen in hohem Bogen aus der Hand geflogen war. Schon glaubte sie, ihrem Schicksal einmal mehr entronnen zu sein, und bückte sich, um den Schlüssel aufzuheben, bevor das Mädchen darüber hinwegpoltern konnte, als plötzlich etwas ihren Blick zum Ende der Treppe zwang.
Sie sah drei alte Frauen am unteren Treppenabsatz stehen und zu ihr aufblicken - als auch schon das Mädchen von hinten heranstürzte, Sarai in den Rücken prallte und sie mit sich in die Tiefe riß, genau auf die Frauen zu. Der Schlüssel, den sie gerade erst mit Daumen und Zeigefinger ergriffen hatte, entglitt ihr wieder und flog funkelnd davon. In einem Wirrwarr aus Armen und Beinen schlugen die beiden Mädchen im zweiten Stockwerk auf den Boden vor der Treppe. Die drei Frauen traten hoheitsvoll zwei Schritte zurück, um nicht getroffen zu werden. Mit finsteren Gesichtern, tief zerfurcht von Altersfalten und Wut über den Vorfall, starrten sie auf Sarai herab, reglos, überlegen, schweigend.
Sarai strampelte sich von ihrer benommenen Gegnerin los, keuchte dabei vor Schmerz und rappelte sich auf die Füße. Während sich das Mädchen noch weinend am Boden wand, blickte Sarai zu den drei Frauen auf.
Und aufblicken mußte sie in der Tat. Obwohl die drei ihr siebzigstes Jahr weit überschritten hatten, waren sie doch hochgewachsen und standen so gerade da wie dreischwarze Kerzen. Jede war um einen Kopf größer als Sarai. Eine unheimliche Aura umgab dieses stumme Tribunal. Der Geruch von Alter umwaberte sie, aber da war noch etwas anderes. Es roch nach Staub, als hätten
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