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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Feder fort. Offenbar wollte man nicht mit ihr sprechen.
    Was, wenn es doch nur Tauben waren?
    Jetzt hörte sie ferne Rufe, unten in der Gasse. Rufe und hallende Stiefelschritte. Sie rannte zum Fenster. Der hölzerne Fußboden ächzte unter ihren Füßen. Staubwolken stoben auf. Sarai riß den Fenstergriff herunter. Er klemmte, doch unter kräftigem Rucken gelang es ihr, ihn zu lösen. Sie ahnte bereits, was sie draußen sehen würde.
    Sie steckte vorsichtig den Kopf aus der Luke. Ihr gegenüber, getrennt nur durch den Abgrund der Gasse, lag das Dach der Georgsbasilika. Es waren nur wenige Schritte bis dorthin, doch selbst wenn sie weit genug hätte springen können, so war doch das Fenster zu eng, um mehr als den Kopf hindurchzuschieben.
    Sarai blickte in die Tiefe. Eine Handvoll Ligasöldner, offenbar die neue Palastwache, stürmte ins Haus. Die junge Edelfrau, die sie die Treppe hinabgestoßen hatte, stand neben der Tür und sprach aufgeregt auf die vorbeilaufenden Männer ein. Die drei Alten waren nirgends zu sehen.
    Statt Sarai persönlich zu verfolgen, hatten die Frauen die Wache gerufen. Sollten die Söldner sich mit der Einbrecherin abgeben. Nur deshalb war ihr niemand auf den Speicher gefolgt; die Frauen wollten sich die Hände nicht schmutzig machen.
    Sarai spürte, wie ihr ganzer Körper zu zittern begann. Wenn sie den Söldnern der Liga in die Hände fiel, war es um sie geschehen.
    Schon hörte sie ihr Poltern weiter unten auf der Treppe. Sie mußten schon im zweiten Stock sein. Noch zwei Treppen.
    Ihr blieb keine Zeit, lange nachzudenken. Sie hatte ohnehin keine Wahl. Wenn sie den Speicher durch die Tür verließ, würde sie den Söldnern in die Arme laufen. Durchs Fenster aber paßte sie nicht. Blieb nur die Flucht nach oben. Hinauf ins Netz der Dachbalken. Hinauf in die Finsternis.
    Sie kletterte den erstbesten der unteren Stützbalken hinauf, wechselte von da aus auf den nächsten. Schon befand sie sich drei Schritte über dem Boden. Der Lärm der Söldner kam immer näher. Die Männer mußten den dritten Stock erreicht haben, stürmten jetzt die letzte Treppe hinauf.
    Sarai blickte im Klettern nach oben. Sie hatte erwartet, die Dunkelheit würde sich allmählich lichten, je näher sie ihr käme, doch das stellte sich als Trugschluß heraus. Die Finsternis im Dachwinkel hing über ihr wie eine Gewitterwolke. Sie hörte nicht mehr, ob das Rascheln andauerte, ihre eigenen Geräusche beim Erklimmen der Dachbalken waren zu laut. Wohl aber sah sie weitere Federn, die von oben herabrieselten, an ihr vorbei in die Tiefe. Sarai war jetzt gute drei Mannslängen über dem Boden, aber noch immer hatte sie den höchsten Punkt des Speichers nicht erreicht.
    Die Söldner nahmen sich nicht die Zeit, die Klinke zu benutzen - sie traten die Tür aus den Angeln. Vielleicht glaubten sie, damit den Damen zu imponieren.
    Sarai kletterte langsamer. Sie mußte leise sein, lautlos. Auch war sie nicht sicher, ob man sie von unten noch sehen konnte. Jede schnelle Bewegung mochte sie verraten.
    Sechs Männer schoben sich durch den zertrümmerten Einstieg, der Rest wartete draußen. Die Söldner trugen das übliche Geckenkostüm, dazu lange Dolche, einer auch ein Schwert. Eilig blickten sie sich um und fanden den Dachboden zu ihrem Erstaunen verlassen vor.
    Sarai klammerte sich eng an einen Balken und ging dahinter in Deckung; natürlich war er viel zu schmal, um sie gänzlich zu verbergen.
    »Hier ist keiner«, sagte einer der Söldner, und ein zweiter wiederholte die Worte lautstark ins Treppenhaus.
    »Sie ist fort«, sagte der erste.
    »Sie ist fort!« schrie der zweite.
    »Falls sie je hier war«, fügte der erste wie im Selbstgespräch leise hinzu.
    »Falls sie je hier war!« brüllte der andere die Treppe hinunter. »Halt's Maul!« schnauzte ihn der erste an, der wohl befürchtete, durch seine Zweifel bei den Damen an Ansehen zu verlieren. Sarai blickte gebannt nach unten. Noch war keiner der sechs auf den Einfall gekommen, zu ihr aufzuschauen.
    Würde er sie dann entdecken? Sie sah auf ihre eigenen Arme und Beine herab und konnte sie trotz der Dunkelheit als Schemen erkennen. Ihre Augen hatten sich an das fehlende Licht gewöhnt. Gut möglich, daß sie für die Söldner nicht zu sehen war.
    Ohnehin aber machte noch immer niemand Anstalten, aufzublicken. Offenbar hatten die Männer wenig Lust, sich um die Sorgen der Edeldamen zu kümmern. Ihnen war gleichgültig, ob eine Diebin den Frauen die Schmuckstücke stahl. Ganz im

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