Der Schattenesser
die drei jahrzehntelang auf irgendeinem Speicher gestanden wie vergessene Möbelstücke und wären plötzlich zum Leben erwacht.
Auch später vermochte Sarai nicht in Worte zu fassen, woran es lag, aber mit einem mal vervielfachte sich ihre Furcht und raubte ihr die Vernunft. Statt mit den Frauen zu sprechen, sich um eine Erklärung zu bemühen, warf sie sich herum und stürmte die Treppe wieder hinauf. Sie wußte nicht, wohin sie rannte, doch eines war gewiß
- sie mußte fort von den drei Alten, jetzt gleich, noch in diesem Augenblick.
Sie schaute sich nicht um, stürmte einfach die Stufen hoch, gelangte wieder in den dritten Stock und rannte von dort aus weiter nach oben.
Sie stieß eine niedrige Holztür auf, schob sich gebückt hindurch und stand inmitten eines hohen Speicherraumes. Er war vollkommen leer. Zwei hohe Schrägen trafen sich weit, weit über ihrem Kopf, jenseits eines verschlungenen Netzes aus Holzbalken, deren obere Regionen ebenso wie der Dachwinkel in völliger Dunkelheit lagen. Etwas bewegte sich dort in der Finsternis. Sarai hörte leises Rascheln und einen Laut, wie von Federn, die man gegen den Strich bürstet. Sie starrte angstvollnach oben, aber ihr Blick vermochte die Dunkelheit nicht zu durchdringen.
Durch zwei winzige Fenster, jeweils im unteren Teil der dreieckigen Seitenwände, fielen zwei schräge Lichtbalken von den Scheiben bis zum Boden. Es sah aus, als ob sie die Schatten stützten.
Die Geräusche im D unkeln über ihr verstummten. Sa rai rief sich verzweifelt zur Ruhe, doch sie spürte, daß ihr ganzer Körper bebte. Sie lauschte hinaus ins Treppenhaus. Noch waren da keine Schritte, die ihr folgten. Das mochte sich schnell ändern.
Sie schlug die Tür zu und sah sich gehetzt nach etwas um, das sie davorschieben konnte. Es gab nichts. Auch keinen Riegel.
Der Dachboden war ein geschlossener Raum ohne weitere Türen. Die Fenster mochten sich öffnen lassen, aber dort draußen fielen die Wände steil hinab in den Abgrund, drei Stockwerke tief. Sarai saß in der Falle. Wenn man ihr jetzt folgte, gab es keinen Weg zur Flucht.
Da hörte sie wieder das Rascheln, zweimal. Beide Male aus der Finsternis über ihrem Kopf, aus zwei verschiedenen Richtungen. Irgend etwas war dort oben zwischen den Balken.
Sie wich langsam von der Tür zurück. Jeden Augenblick mochte sie aufspringen. Sarai stellte sich eine Horde streitlustiger Weiber vor, die durch den engen Eingang auf den Speicher quoll. Oder, schlimmer noch, die drei alten Frauen im Türrahmen, stumm, mit kleinen schwarzen Augen in zerfurchten Krähengesichtern.
Etwas schwebte vor ihr von der Decke herab.
Eine Feder.
Langsam, fast gemächlich, trudelte sie an ihrem Gesicht vorüber und segelte sanft zu Boden.
Noch einmal schaute Sarai nach oben und sah nichts als Schwärze. Zögernd bückte sie sich. Streckte die Finger nach der Feder aus. Sie war grau, mit einem Stich ins Braune.
Von einer Taube, dachte sie.
Oder einem Huhn.
Ekel schnürte ihr die Kehle zu. Angewidert schüttelte sie die Feder von ihrer Hand. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und wandte das Gesicht nach oben. »Ihr könnt euch zeigen«, sagte sie und bemühte sich,
ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Ich weiß, daß ihr da seid.«
Keine Antwort. Nur ein neuerliches Rascheln.
Auch im Treppenhaus herrschte Stille. Warum folgte ihr niemand?
»Ich kenne euch«, sagte sie stockend. »Ich will mit euch sprechen.«
Ein nahezu lautloses Rauschen. Etwas huschte von einem Balken zum anderen. Das Zwielicht, das durch die beiden Fensterluken fiel, reichte gerade bis zu den unteren Balken, die zweite Schicht darüber war nur noch in Umrissen zu erkennen. Wenn Sarai die Höhe des Speichers richtig einschätzte, mußte es dort oben fünf odersechs solcher Ebenen von Balken geben. Platz genug für Hunderte von Tauben. Oder zwei Dutzend Hühnerfrauen.
»Ich bin wehrlos«, rief sie erneut und hob beide Arme, um zu zeigen, daß sie keine Waffen verbarg. »Ich will euch nichts Böses.«
Nein, das wollte sie bestimmt nicht. Was aber, wenn man ihr Böses wollte?
»Warum versteckt ihr euch? Ich habe eine von euch gesehen, unten, in der Kleineren Stadt. Ich weiß, wie ihr ausseht.«
Etwas flatterte in der Dunkelheit.
Flattern? Also Flügel. Die Hühnerfrauen flogen nicht. Sie waren Menschen. Aber konnte sie da völlig sichersein?
Eine Handvoll Federn schwebte auf sie herab wie große Schneeflocken. Eine haftete an Sarais Stirn. Angeekelt wischte sie die
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