Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Gegenteil: Sie hätten wohl selbst gern einen Griff in die Schatullen getan.
    Die ersten Männer verließen den Speicher. Übrig blieben erst drei, dann zwei, schließlich nur noch der Wortführer. Auch er wollte gerade durch die zerbrochene Tür auf die Treppe treten, als von oben eine Feder in sein Gesicht trudelte.
    Der Mann erschrak, fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Erstmals schien ihm bewußt zu werden, daß über ihm mehr sein könnte als ein paar alte Balken.
    »Wartet!« rief er seinen Gefährten hinterher.
    Er sah nach oben.
    Sarai hielt den Atem an. Langsam und überaus eindringlich musterte der Söldner das Balkengewirr. Er kniff die Augen zusammen, verfluchte die Dunkelheit. Sein Blick tastete über den Dachstuhl. Zuletzt verharrte er auf der Stelle, an der Sarai sich zitternd an den Balken klammerte. Sie sah, daß seine Brauen ebenso buschig waren wie sein Schnauzbart. Eine Narbe verlief quer über sein gegerbtes Gesicht.
    »Ist da wer?« fragte er laut. Er hat mich gesehen! durchfuhr es Sarai panisch. Er muß mich gesehen haben!
    Aber noch immer starrte er sie nur an, ohne sie anzusprechen.
    »Ist da oben jemand?« fragte er noch einmal.
    Hinter ihm traten zwei weitere Söldner durch die Tür,
    ihnen folgte ein dritter. Zu viert blickten sie jetzt nach oben. »Wenn da wer ist, sollte er schnell herunterkommen«, raunzte der Wortführer. Sarai jubelte in Gedanken: Er sieht mich nicht! Wenigstens noch nicht.
    Aber vielleicht hatte einer der anderen bessere Augen. Oder kam gar auf die Idee, selbst ins Gebälk zu klettern, um nach dem Rechten zu sehen. Sarai begriff, daß sie so gut wie verloren war.
    Einen halben Schritt neben ihrem Ohr ertönte plötzlich heftiger Flügelschlag. Eine Taube stob auf und flatterte lautstark in die Tiefe. Eine zweite folgte ihr. Die Männer duckten sich erschrocken, als die Vögel über ihre Köpfe hinwegjagten. Eine streifte die lange Feder auf dem Barett eines Söldners und riß sie heraus. Der Kerl fluchte, als sein Kopfschmuck zu Boden fiel.
    »Drecksviecher!« schimpfte er und bückte sich.
    Drei weitere Tauben lösten sich aus der Dunkelheit und flatterten abwärts. Sie landeten am Boden und stolzierten- über den Staubteppich, als seien die Söldner gar nicht anwesend. Einer holte aus und trat nach einem der Tiere, doch der Vogel wich mühelos zur Seite.
    Sarai wollte nicht länger warten. Der Hauptmann würde einen Wächter zurücklassen, ein Abstieg war dann unmöglich. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, durchs Dach zu entkommen. Das lange Kleid, das Cassius ihr gegeben hatte, hinderte sie fast bis zur Unbeweglichkeit. Langsam, um sich nicht durch rasche Bewegungen zu verraten, schob sie den Saum bis zu den Hüften empor. Nun konnte sie zwar besser klettern, und auch der Stoff raschelte nicht mehr so wie zuvor, aber ihre nackten Beine scheuerten über die Balken, und Splitter zerkratzten ihre Haut. Es brannte wie Ameisengift.
    Sie vermochte nun kaum noch zu erkennen, wohin sie Hände und Füße setzte, so finster war es hier oben. Die Balken verliefen kreuz und quer, die meisten schräg, so daß sie darüber langsam, aber allmählich in höhere Regionen vorstieß. Wäre nicht der Schmerz in ihren Beinen gewesen, sie hätte wohl meinen können, zu schweben: Es war eigenartig, den Boden unter sich zu sehen - ein seltsames Mosaik aus Zwielicht, in Scherben zerschlagen vom Netz der Balken -, aber weder neben noch über sich schauen zu können. Die Dunkelheit war dort so dicht wie Tinte. Jetzt konnte sie auch ihre eigenen Glieder nicht mehr erkennen, nur dann, wenn sie sich als Silhouetten vor die dämmrige Tiefe schoben.
    Immer öfter störte sie nun Tauben auf. Sie mußte sich jetzt etwa fünf Mannslängen über dem Boden befinden. Viel höher konnte der Giebel doch unmöglich sein! Aber noch führten weitere Balken nach oben, und schließlich verlor Sarai jedes Gefühl für Entfernung und Tiefe. Die Gespräche der Söldner drangen nur noch als Gemurmel an ihr Ohr. Der Hauptmann gab seinen Männern Befehl, sich zurückzuziehen. Wie erwartet, ließ er einen Söldner als Wache zurück.
    Während die übrigen die Treppe hinabpolterten und verschwanden, setzte sich der Zurückgelassene vor die zertrümmerte Tür und starrte unsicher ins Dunkel des Dachstuhls. Sarai wußte, was er empfand. Sie selbst hatte es eben erst durchgemacht. Wahrscheinlich spürte er, daß sich dort oben etwas regte. Etwas, das keine Taube war.
    Sarai kam die Erkenntnis im selben Augenblick.

Weitere Kostenlose Bücher