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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Katholischen Liga.
    Das Mädchen mit dem Schlüssel stieg wieder die Treppe hinauf, sprach mit einer anderen Frau, die Sarai nicht sehen konnte, ein paar undeutliche Worte, dann gingen sie gemeinsam davon. Wenige Herzschläge später waren ihre Schritte verklungen.
    Sarai atmete auf, obgleich ihr doch klar war, daß die Gefahren erst begonnen hatten. Sie wußte, daß man sie ohne Zögern der Palastwache ausliefern würde, falls man sie hier ertappte. Die Adels- und Kaufmannsfamilien, die hier Zuflucht gesucht hatten, mußten einander sicherlich kennen, eine Fremde würde jedem gleich auffallen. Man würde sie für eine Einbrecherin halten, die sich an den verbliebenen Gütern der Flüchtlinge gütlich tun wollte. Mitleid oder gar Gnade hatte sie nicht zu erwarten.
    Anders lagen die Dinge freilich, falls Cassius recht behielt. Sein Plan war denkbar einfach: Sarai sollte die Frauen beobachten und sich, falls die Hühnerweiber tatsächlich aus ihren Reihen kamen, um Aufnahme in ihren Zirkel bemühen. Sie konnte noch immer nicht fassen, wie leichtfertig sie dem zugestimmt hatte. »Ich würde es selbst versuchen«, hatte Cassius gesagt, als er ihr Zögern bemerkte, »aber außer meiner Altmännerbrust besitze ich wenig, das mich für diese Aufgabe taugen läßt.« Damit hatte er wohl recht. Spätestens in jenem Augenblick hätten sie den Plan verwerfen müssen.
    Sarai blickte sich um. Der Raum, in dem sie sich befand, war niedrig und nicht allzu groß, höchstens sechsmal sechs Schritte. Er war angefüllt mit Kisten und Säcken , aus denen Stoffe, Gemälde, kleine Statuen und andere Gegenstände quollen, welche die Besitzer vor der Flucht aus ihrem Stadtpalais zusammengerafft hatten. An einer Wand standen zwei Betten.
    Neugierig durchquerte sie den Raum und trat an eine zweite Tür. Sie drückte die Klinke vorsichtig herunter und blickte ins nächste Zimmer. Dort entdeckte sie ein breites Himmelbett inmitten eines prachtvollen Gemachs. Im vorderen Raum waren demnach die Bediensteten untergebracht, während Herr und Herrin nicht auf ihren gewohnten Prunk verzichten mußten. Ungewöhnlich genug für eine Stadt, die sich inmitten eines Krieges befand. Sarai dachte an das Elend in den Gassen, an die vielen Toten und Gezeichneten, blickte dabei in das Schlafgemach der geflohenen Edelleute und hätteam liebsten auf ihr verschnörkeltes Bett gespuckt. Siewünschte allen Schloßbewohnern, Cassius ausgenommen, daß sie an ihrer prunkvollen Gleichgültigkeit erstickten. Sie feierten Feste auf dem Hradschin, während hundert Schritte tiefer auf den Straßen die Kinder verreckten.
    Aber wer war Sarai, darüber zu urteilen? Hatte sie selbst es nicht vorgezogen, mit Cassius in den Mihulka-Turm zu gehen, statt unten in der ärmlichen Judenstadt zu bleiben? War nicht auch sie in die Sicherheit der Burg geflohen, als sich die Möglichkeit dazu bot?
    Sie drückte die Tür zu, verließ auch das Vorzimmer und trat zurück in die leere Eingangshalle. Sie hatte nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie folgte der einen Gruppe von Frauen nach oben, oder aber sie ging den dunklen Flur hinunter. Die Ungewisse Finsternis am Ende des Korridors gab den Ausschlag, und so stieg Sarai langsam die Treppe hinauf. Sie trug Schuhe mit weichen Ledersohlen, die auf den Marmorstufen keinen Laut verursachten. Gegenüber den Edeldamen war sie dadurch im Vorteil, denn deren teures Schuhwerk klapperte vernehmlich auf den Steinböden und verriet schon von weitem ihr Kommen.
    Jetzt aber herrschte Stille. Das Haus war wie ausgestorben. Zum erstenmal fragte sich Sarai, wo eigentlich die Männer und Kinder der Frauen waren. Hatte man sie getrennt voneinander untergebracht? Dem widersprach das Schlafgemach, das sie gesehen hatte. Was aber sprach dagegen, daß dort zwei Frauen lebten, etwa Mutter und Tochter? Vielleicht traute Maximilian von Bayern dem Prager Adel doch weniger, als sie bislang vermutet hatte. Möglicherweise benutzte er Männer und Frauen als gegenseitiges Faustpfand. Die einen würden sich ohne die anderen nicht gegen ihn stellen, er behielt sie unter Kontrolle, ohne härtere Maßnahmen zu ergreifen.
    Demnach hatte Sarai es vorerst nur mit Frauen zu tun. Sie war nicht sicher, ob ihr dieser Gedanke gefiel. Erleichterung verspürte sie keine.
    Die Treppe führte im ersten Stockwerk auf einen Flur, an den mehrere Zimmer grenzten. Alle Türen waren geschlossen. Sarai entschied sich, weiter nach oben zu steigen. Im dritten Stock schließlich hörte sie erneute

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