Der Schattenesser
im Königspalast, und seine Soldaten patrouillierten auf den Zinnen. Doch im Gegensatz zu den Gassen der Stadt gab es hier oben keine Übergriffe auf böhmische Frauen, keine Morde, keinen Raub. Jeder, der dem Kaiser im We ge stand, war noch am Tage der Schlacht beseitigt worden, alle anderen hatten mit ihm Frieden geschlossen. Jene Kaufleute und Edelmänner, die ihre Anwesen in der Stadt verlassen hatten, mochten zwar um ihre Besitztümer trauern, doch das Wohnen auf der Burg hatte durchaus seine guten Seiten. Nur die Höchsten der Hochgestellten hatten Aufnahme gefunden, zwei oder drei Dutzend Familien, was Standeszwistigkeiten untereinander ein für allemal entschied. Ja, man fühlte sich eins mit den Herrschenden.
Die meisten hatten die Gästequartiere im Nordosten des Hradschin bezogen, und dorthin folgte Sarai den Damen nun in einigem Abstand. Cassius hatte in einer Plunderkiste im Turm ein altes Kleid für sie gefunden; Sarai hatte versäumt, ihre eigene Kleidung mit auf die Burg zu bringen. Wollte sie sich frei auf dem Hradschin bewegen, mußte sie in die Rolle eines Burgfräuleins schlüpfen, was ihr zutiefst widerstrebte. Sie fühlte sich unwohl in dem langen Kleid, obgleich Cassius ihr immer wieder halbherzig versichert hatte, wie wunderbar sie darin ausehe. Es hatte ihr Befinden keineswegs gebessert, daß Saxonius bei ihrem Anblick schrie: »Der Teufel kommt! Der Teufel kommt!«
Das Kleid war aus dunkelrotem Stoff und hatte die Jahre in der Kiste leidlich gut überstanden. Sarai fühlte sich darin unbeweglich und allen Blicken ausgeliefert, auf dem grauen Burghof war sie so auffällig wie der Weinfleck auf der Soutane eines Pfaffen.
Die Damen stolzierten in ihren prachtvollen Gewändern durch den Regen, an Dom und Königspalast vorüber, ließen die Sankt Georgs Basilika zur Linken liegen und betraten dann die Gebäudezeile zu ihrer Rechten. Sarai hatte nicht gewußt, wie groß der Hradschin wirklich war, sie hatte ihn bis dahin nur von außen gekannt. Jetzt entdeckte sie staunend, daß eine ganze Stadt in den Burgmauern untergebracht war, mit mehreren Kirchen, einem Kloster, riesigen Häusern und verwinkelten Gas
sen. Gegen ihren Willen war sie von der mächtigen Anlage beeindruckt.
Der Eingang, durch den die rund zwei Dutzend Edeldamen verschwunden waren, gehörte zu einem langgestreckten Häuserblock, der sich eng an die Burgmauerschmiegte. Die Fenster blickten zur einen Seite auf den steil abfallenden Wallgarten, zur anderen hinab in die schmale Georgsgasse und auf die Basilika. Sarai wartete, bis auch die letzte der Frauen ins Haus getreten war, dann folgte sie ihnen unauffällig.
Das Ganze war natürlich Cassius' Plan, und sie bereute schon jetzt, sich darauf eingelassen zu haben. Noch immer war sie nicht von einem Zusammenhang zwischen dem Schattenmörder und den Hühnerweibern überzeugt. Zwar sah sie die Notwendigkeit ein, auch der kleinsten Spur nachzugehen, doch die Vorstellung, daß ihr eines dieser überzuckerten Weibsstücke in der Kleineren Stadt als gespenstische Hühnerfrau begegnet sein sollte, hielt sie für völlig abwegig. Sie hatte dem Vorhaben des Alchimisten zugestimmt, weil es die einzige Möglichkeit war, überhaupt irgend etwas zu tun, doch als sie nun hinter den Frauen her in das Gebäude schlich, bekam sie es doch mit der Angst zu tun.
Hinter der Tür lag eine kleine Eingangshalle, von der aus eine breite Treppe in die oberen Stockwerke führte. Zwei angrenzende Zimmer lagen hinter geschlossenen Türen. Ein offener Durchgang gewährte den Blick in einen dunklen Flur. Sarai schaute sich vorsichtig um und sah gerade noch die letzten Kleiderzipfel auf den oberen Stufen verschwinden. Auch jenseits des düsteren Durchgangs entfernten sich Schritte.
Sarai überlegte gerade, wohin sie sich wenden sollte, und spielte bereits mit dem Gedanken, einfach umzukehren, als sie oberhalb der Treppe Stimmen vernahm, dann Schritte. Jemand kam wieder ins Erdgeschoß herunter.
Lautlos huschte Sarai durch eine der Türen - sie war nicht verriegelt - und beobachtete durch einen Spalt, wie ein junges Mädchen, nicht älter als sie selbst, an die Haustür trat und sie mit einem handgroßen Schlüssel zusperrte. Einen Augenblick lang tobte in Sarai die Befürchtung, man hätte ihr Eindringen bemerkt und wollte sie nun gefangenhalten. Dann aber wurde ihr klar, daß die Vorsicht der Frauen nicht ihr galt: Wahrscheinlich fürchtete man trotz allem Frieden auf der Burg die Söldner der
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