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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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gestoßen war. Tatsächlich hatte man einen schmalen Streifen an der östlichen Stirnseite durch eine Wand abgeteilt, die bei grobem Hinsehen nicht auffiel. Auf den zweiten Blick jedoch war sie deutlich zu erkennen, waren ihre Steine doch heller und sauberer verfugt, als hätte man sie erst vor wenigen Jahren aufeinandergeschichtet - im Gegensatz zu den übrigen Mauern der Synagoge, die seit Jahrhunderten an diesem Ort standen. Sarai durchquerte den Dachboden und besah sich die Tür genauer. Man hatte sich keine große Mühe gegeben, sie zu tarnen. Auch sie war durch einen Holzriegel, ganz ähnlich jenem an der Speichertür, versperrt. Als Sarai zögernd die Hand danach ausstreckte, da war ihr, als tauche sie ihre Fingerspitzen in heißes Wasser, nicht kochend, daß es sie verbrannte, aber doch heiß genug, um sie zurückschrecken zu lassen. Schließlich aber überwand sie ihre Scheu, nahm den leichten Schmerz in Kauf und schob den Riegel zurück. Die Tür schwang knirschend nach innen.
    Vor ihr lag eine schmale Kammer, kaum fünf oder sechs Schritte breit. Wie im großen Speicherraum führte auch hier eine Leiter nach oben zu einer kleinen, geschlossenen Dachluke. Durch Ritzen im Gebälk drang der sanfte Schein der Mittagssonne. Sie mußte bald ihren höchsten Stand erreichen und wurde vom Nebeldunst in alle Richtungen geworfen. Seit Tagen war es draußen nicht mehr so hell gewesen, erst recht nicht hier drinnen. Zu jeder anderen Tageszeit mußte die Kammer in völliger Dunkelheit liegen.
    Sarai schaute sich neugierig um, und sogleich überkam sie herbe Enttäuschung. Sie war nicht sicher, was sie erwartet hatte; am ehesten wohl die reglose Gestalt des Golem, lang und staubig vor ihr ausgestreckt auf einem prachtvollen Altar. Doch hier oben gab es nichts dergleichen, nur leeren Fußboden und die Leiter. Vom Golem entdeckte sie keine Spur.
    Doch, halt - da waren Spuren. Fußspuren im Staub auf dem Boden. Jemand mußte hier gewesen sein.
    Noch einmal blickte sie sich um, und da, endlich, entdeckte sie ihn über sich. Er bot ein Bild des Jammers, aber das fiel ihr erst beim zweiten Hinsehen auf. Erst einmal war sie beeindruckt, fast schockiert, daß er genauso aussah wie in ihrer Vision. Sie erkannte ihn sofort, es gab nicht den geringsten Zweifel.
    Der Golem hockte wie ein Vogel mit angezogenen Knien auf einem der oberen Dachbalken - beinahe wie eines der Hühnerweiber, dachte Sarai erschrocken - und hatte das Kinn fest an die Brust gepreßt. Seine Augen waren geschlossen, die Arme über dem Kopf verschränkt. Es war offensichtlich, daß er sich vor ihr verstecken wollte, doch er tat es nach Art eines kleinen Kindes: Seh ich dich nicht, siehst du mich nicht!
    Er trug farblose Kleiderfetzen, von Alter und Motten angenagt. Seine Haut und sein Haar waren so weiß wie heller Ton, den man nach dem Brennen nicht bemalt hatte.
    Sein Anblick machte sie traurig, wenngleich ihr nicht klar war, warum. Vielleicht, weil ein längst Verlorengeglaubter wieder vor ein menschliches Auge trat, nachlangen, langen Jahren des Fortseins. Sie hatte fast das Gefühl, als stünde sie einem verschollenen Bruder gegenüber.
    Und als ihr das klar wurde, da weinte sie und sagte leise: »Ich bin hier.«
    Unten, im Saal der Synagoge, erschien dem Rabbi ein Gesandter des Himmels.
    Der alte Mann wollte eben den Saal verlassen, als er spürte, daß jemand durch die Eingangstür des Gotteshauses trat. Tatsächlich: Er spürte den anderen, bevor er ihn sah, und als ihn jenes wundersame, beängstigende Gefühl überkam, das ihn für Tage nicht mehr verlassen sollte, da fiel er auf die Knie, senkte den Blick und wagte nur noch, auf die Füße des Besuchers zu schauen. Der Fremde trug ein schwarzes Gewand, so weit und lang, daß nur die Stiefelspitzen unter seinem Saum hervorschauten; auch sie waren schwarz.
    Der Rabbi fühlte, wie sein Geist sich verwirrte, er sah, wie der Boden unt er ihm davonschwamm. Der Marmor knirschte unter den Schritten des Fremden, als müsse er splittern und bersten, doch trotz der Laute blieb er unversehrt. Der Rabbi hielt es nicht länger aus, die Stiefelspitzen anzustarren, denn er wußte mit einem mal, daß sie trotz ihres gewöhnlichen Aussehens keinem Menschen gehörten. Der da vor ihm stand, war kein Sterblicher, das fühlte der alte Rabbi mit aller Überzeugung. Und obgleich er Angst verspürte, Panik gar, war da etwas in ihm, das ihm sagte: Fürchte dich nicht, denn was du siehst und fühlst ist gut!
    Er blickte nicht

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