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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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er fortfuhr.
    »Nach einer alten Lehre«, erklärte er, »ist das, was uns umgibt, eine Welt der Wirkungen. Du willst wissen, was das bedeutet? Ich nenne dir ein Beispiel: Gäbe ich etwa Saxonius aus Geiz kein Futter mehr, dann fiele er eines Tages ausgehungert und tot von seiner Stange. Du würdest dann sagen, mein Geiz sei die Ursache seines Todes, nicht wahr?«
    Sie nickte.
    »Nadeltanz jedoch, oder wie immer sein wahrer Name lauten mag, würde dir widersprechen. Er würde sagen, Saxonius' Tod sei ebenso wie mein Geiz nur eine Wirkung einer sehr viel höheren Ursache, die wir Menschen nicht begreifen können. Alles, was auf der Welt geschieht, vom Zerfall mächtiger Reiche bis hin zum Wind, der den Grashalm biegt, alles ist demnach nur Wirkung, denn wahre Ursachen gibt es auf unserer Ebene des Daseins nicht. Was wir Menschen für Ursachen halten, sind tatsächlich nur Wirkungen oder bestenfalls, wie der Geiz in meinem Beispiel, das Vorzeichen einer Wirkung. Eine Entscheidung etwa, die ein Mensch für sein ureigenes Vorrecht hält, ist in Wahrheit nur Wirkung, ebenso ein Sturm, ein Erdbeben, alle Kräfte, die wir für ursächlich halten mögen. Die wahren Gründe hierfür aber bleiben den gemeinen Sterblichen verborgen, denn die Gründe sind anderswo zu Hause -im Reich der Ursachen.«
    Sarai gab sich Mühe, seinen Worten zu folgen. »Wenn ich also diese Kerze auspuste, dann ist nicht nur ihr Verlöschen Wirkung, sondern ...«
    »Auch dein Pusten«, unterbrach er sie lächelnd. »Beides sind nur Wirkungen einer einzigen geheimen Ursache, die weder dir noch der Kerze bewußt ist, denn ihr habt keinen Zugang dazu. Den Zugang hat nur jener,
    dem es gelingt, ins Reich der Ursachen vorzustoßen. Wer die Reise dorthin zustande bringt und wer Einfluß auf die verborgenen, die wirklichen Ursachen nehmen kann, der beherrscht die Magie, der beherrscht die Welt.«
    »Und das hat Nadeltanz vollbracht?« fragte sie ungläubig.
    »Er hat dir einen Blick dorthin ermöglicht. Dir und den anderen.« »Dann war das, was ich dort sah, die wahre Ursache des Schattensterbens?«
    Er hob die Schultern. »Vielleicht war es nur ein Hinweis. Oder auch die Gestaltwerdung dieser Ursache. Ich weiß es nicht.«
    Sarai dachte einen Augenblick nach, dann fragte sie: »Was meintest du damit, als du ihn den Ohne-Angst-Mann nanntest? Das klingt albern.«
    Cassius blieb ernst. »Willst du tatsächlich die Wahrheit hören?«
    »Ja.«
    Er seufzte. »Es heißt, dieser Mann, der sich jetzt Leander Nadeltanz nennt, habe als erster Mensch auf Erden die Angst besiegt, und das mache ihn unsterblich. Deshalb nannte ich ihn den Ewigen.«
    »Was hat denn Angst mit Unsterblichkeit zu tun?«
    Cassius dachte einen Augenblick darüber nach, wie er ihr die Zusammenhänge am besten verdeutlichen konnte, dann stellte er eine Gegenfrage: »Welcher Teil des Menschen bestimmt darüber, ob er lebt oder stirbt?«
    Sie überlegte kurz. »Das Herz.«
    »Ganz genau, das Herz«, bestätigte er zufrieden. »Das Herz bestimmt über Leben und Tod eines Menschen. Wer aber bestimmt über das Herz? Sicher nicht der Mensch. Tatsächlich ist das Herz der einzige Teil eines Menschen, über den er selbst keine Gewalt hat. Nicht er bestimmt, ob es schnell oder langsam schlägt, oder ob es ganz damit aufhört. Ausgerechnet jenes Organ, das ihm doch das wichtigste ist, wird von etwas anderem regiert.«
    »Von den verborgenen Ursachen?« fragte sie leise.
    »Nein«, erwiderte Cassius lächelnd und schüttelte den Kopf. »Die Ursachen, von denen wir eben sprachen, haben damit nur am Rande zu tun, denn sie stehen über allem. Jetzt aber geht es um einen Ablauf innerhalb des menschlichen Körpers, ebenso greifbar wie Nasenbluten oder Haarausfall. Die Frage lautet: Was ist es, das unsere Herzen regiert?«
    »Die Furcht?« schlug sie vor.
    »Ja, mein Kind!« rief Cassius erregt, sprang von seinem Sessel auf, ging einmal wortlos auf und ab und setzte sich wieder. »Ich sehe, du bist eine kluge Denkerin. Die Furcht also beherrscht unsere Herzen. Verspüren wir sie in unserem Inneren, geht der Herzschlag schneller, zieht sie sich zurück, wird er langsamer. In größter Todesangst kann es gar geschehen, daß unser Herz vor Aufregung ganz zu schlagen aufhört. Jeder Mensch trägt die Furcht in sich, jederzeit und überall, oft sogar, ohne es zu bemerken. Und immer liegt sie wie eine Hand um sein Herz, bereit, augenblicklich zuzudrücken, von einem Moment zum anderen. Wer aber diese Furcht besiegt und

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