Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
auf, als der Fremde zu ihm sprach: »Du weißt, wer ich bin?« »Ja«, erwiderte der Rabbi gehorsam, »du bist ein mal'ak Jahve, ein Bote des Herrn.«
    »Dann gehorche dem, der aus mir spricht.«
    »Was gebietest du, Herr?«
    »Ziehe dich zurück in deine Kammer und bleibe dort bis zum Abend, ganz gleich, was auch geschehen mag. Halte ewiges Stillschweigen über mein Kommen. Bete für das Heil dieser Stadt und ihrer Menschen.«
    »Ja, Herr, das werde ich.«
    Die splitternden Schritte des Fremden entfernten sich im Vorraum. Eine Tür wurde aufgerissen, dann stieg der Fremde die Treppe zum Speicher hinauf.
    Der Rabbi blieb noch eine Weile am Boden hocken, die Augen fest geschlossen, die Stirn auf den kalten Stein gepreßt, die Hände gefaltet. Es gab für ihn keine Fragen, keinen Zweifel. Er würde gehorchen. Er spürte tief im Inneren, daß er das Richtige tat.
    Lautlos stand er auf, taumelte einen Augenblick, dann eilte er durch den Vorraum in seine Schlafkammer. Er schaute nicht nach rechts oder links, starrte nur in aller Demut auf seine eigenen Füße. Eilig schob er von innen den Riegel vor seine Kammertür, setzte sich auf den Boden und betete mit geschlossenen Augen, blind und taub für die Welt, betete so, wie der mal'ak
    Jahve es ihm befohlen hatte, bis zum Abend und noch lange darüber hinaus.
    Der Golem zog den Kopf tiefer zwischen die Schultern und verschränkte die Arme fest über seinem Haar. Er hoffte wohl noch immer, Sarai würde ihn nicht sehen, obgleich sie ihn doch angesprochen hatte.
    »Du wirst mit mir sprechen«, sagte Sarai mit fester Stimme. »Ich habe es gesehen. Nicht einmal du kannst die Zukunft verändern.«
    Er gab keine Antwort.
    »Ich weiß, wer du bist«, unternahm sie einen weiteren Versuch. »Du bist Josef, der Golem des Rabbi Löw. Warum schläfst du nicht?«
    Er schwieg. Was, wenn die Jahre in dieser Kammerseinen Verstand getrübt hatten? Oder die Berichte von damals das Wesen des Golems verfälscht hatten? Vielleicht war er geistig immer das Kind geblieben, das er in Wahrheit nie gewesen war.
    Der Balken, auf dem der Golem saß, befand sich nicht weit über Sarais Kopf. Mit ausgestrecktem Arm hätte sie ihn vielleicht berühren können. Doch das wagte sie nicht. Sie mußte sich eingestehen, daß sie wahrscheinlich kaum weniger Angst vor ihm hatte als er vor ihr.
    »Warum sprichst du nicht mit mir?« fragte sie, und nun klang ihre Stimme beinahe verzweifelt. Das gefiel ihr nicht, aber sie konnte es auch nicht ändern. Sie war auf ein Wesen gestoßen, das es eigentlich nicht geben durfte, und nun sollte sie es unverrichteter Dinge wieder verlassen? Wo es doch, so hatte Cassius vermutet, ein Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse war. Sarai widerstrebte es, sich so schnell geschlagen zu geben.
    Doch was sollte sie tun? Sie konnte ihn nicht zwingen, mit ihr zu reden. Möglicherweise war die Vision, die sie in Nadeltanz' Theater gehabt hatte, kein wirkliches Abbild kommender Ereignisse gewesen, sondern nur ein Hinweis, der sie in die richtige Richtung stoßen sollte. Vielleicht würde der Golem niemals mit ihr sprechen. Was aber sollte sie dann hier?
    Sie drehte sich um und verließ die Kammer - nicht, weil sie tatsächlich aufgeben wollte, sondern weil sie hoffte, er würde sie zurückrufen. Es war ein naiver Wunsch, und mit jedem Schritt, den sie über den Dachboden machte, schien er ihr aussichtsloser.
    Betont langsam ging sie auf die Speichertür zu. Plötzlich zögerte sie. Waren da Schritte jenseits der Tür?
    Sie lauschte angestrengt.
    Kein Zweifel: jemand kam die Treppe herauf!
    Vielleicht der Rabbi, schoß es ihr durch den Kopf. Natürlich der Rabbi - wer sonst?
    Aufgeregt sah sie sich um. Kein Versteck weit und breit. Sie hatte die Tür zur Kammer des Golem offengelassen, damit er sehen konnte, wie sie fortging. Jetzt würde der offene Durchgang verraten, daß jemand hier oben gewesen war. Irgend etwas verschaffte ihr die Gewißheit, daß der Golem die Tür aus eigener Kraft nicht öffnen konnte. Wäre er sonst noch in dieser Kammer gefangen?
    Die Schritte kamen näher.
    Einen Herzschlag lang erwog Sarai, zurück in die Kammer zu laufen und sich dort zu verbergen. Dorthin aber würde der Rabbi zweifellos als erstes gehen, denn was, außer dem Golem, hätte ihn sonst auf den leeren Speicher locken können? Die Kammer schied als Versteck somit aus.
    Die Schritte verstummten. Etwas raschelte direkt hinter der Tür. Sarai sah, wie sich die Klinke bewegte, ganz langsam.
    Sie

Weitere Kostenlose Bücher