Der Schattenesser
aus seinem Körper verbannt, der gewinnt auch die Gewalt über sein Herz und damit über Leben und Tod.«
»Das ist Nadeltanz geglückt?«
»So sagt man. Und zwar als einzigem Menschen in der Geschichte der Welt. Denn bedenke, Furcht ist nicht nur die große, überwältigende Angst, die einen manchmal packen mag. Sie kann auch als kleines Unwohlsein in Erscheinung treten, als schwaches Zittern oder Drücken im Bauch. Es mag andere geben, die behaupten, ohne jede Angst zu sein, und sie mögen es nicht besser wissen, aber tatsächlich wohnt die Furcht in jedem Menschen . In jedem, außer Nadeltanz. Seit Jahrhunderten taucht dieser Mann immer wieder auf, unter den verschiedensten Namen, oft unter dem Deckmantel der Legende. Er lebt in Sagen und Märchen, in Schriften und Gerüchten, in Denkmälern und Malereien, aber du würdest ihn wahrscheinlich nicht erkennen, wenn du auf ihn stießest. Er versteht es wie kein anderer, seine Existenz zu verschleiern, und nur selten tritt er ans Licht und zeigt sich. So wie heute.«
Sarai gab sich redliche Mühe, seine Worte begreifen und vor allem glauben zu können. »Aber wenn alles so ist, wie du sagst, dann wäre Leander Nadeltanz der mächtigste Mann der Welt. Er ist unsterblich, weil er keine Furcht mehr verspürt, und er besitzt Macht über alle Dinge, weil er Zugang zum Reich der Ursachen hat. Ist so ein Mann noch ein Mensch - oder ein Gott?«
»Er ist ein Mensch, der gottgleiche Macht besitzt, zweifellos. Doch glaubt man den alten Überlieferungen, so macht er von seinen Kräften kaum Gebrauch. Er schafft nichts Neues, er ist kein Demiurg. Niemals greift er mit eigenen Händen ins Weltgeschehen ein. Statt dessen wählt er einzelne aus, denen er einen schwachen Abglanz seiner Macht gewährt, Menschen wie du, Sarai, denen er vage Hinweise gibt, damit sie aus eigener Kraft verhindern, was uns alle bedroht. Du, Sarai, und vielleicht auch einige der anderen, die mit dir in diesem Theater waren, seid seine Auserwählten.«
Sie starrte ihn fassungslos aus aufgerissenen Augen an. »Aber, Cassius, ich meine ... glaubst du wirklich, was du da sagst?«
Er schenkte ihr ein dünnes Lächeln. »Jedes Wort.«
Ihre Zweifel blieben unerschüttert. »Aber was kümmert es ihn, wenn in Prag einige Menschen ihre Schattenverlieren und sterben? Der Krieg mit der Liga hat unzählige Opfer gefordert, tausendmal mehr als die Opfer des Schattenmörders.«
»Ich weiß, mein Kind. Wie aber könnte ich ahnen, was seine Beweggründe sind? Vielleicht ist das Schattensterben nur der Auftakt zu einer weit größeren, umfassenderen Apokalypse. Denke nur an die Bilder, die wir in unseren Träumen sahen, an die Tausende von Menschen, die sich gegenseitig zerfleischten. Und auch die Hühnerfrauen müssen eine Rolle spielen.«
»Glaubst du, daß sie mit mir im Theater waren?«
»Ich bin sogar sicher. Einige von ihnen waren da, ganz bestimmt.«
Sie überlegte nur einen Augenblick. »Aber das muß ja bedeuten...«
»Daß auch sie ein Opfer des Mörders zu beklagen haben, allerdings«, sagte Cassius. »Mindestens eine aus ihren Reihen muß ebenso gestorben sein wie dein Vater. Und wie wir sind sie auf der Suche nach demjenigen, der dafür verantwortlich ist.«
»Dann sind sie auf unserer Seite.«
Cassius schüttelte den Kopf. »So lange wir nicht wissen, was sie eigentlich sind und wollen, warum sie diese Verkleidung tragen und wer sie ins Leben rief, können wir auch nicht vermuten, auf wessen Seite sie stehen.«
Sarai erzählte ihm von ihrer Vermutung, daß es sich um die Dienerinnen der Prager Edeldamen handeln könnte, angeführt von den drei alten Frauen.
»Du ziehst voreilige Schlüsse«, tadelte Cassius. »Wir müssen abwarten, was sie weiter tun, dann erst können wir Entscheidungen treffen.«
»Ich werde nicht nochmal versuchen, von ihnen aufgenommen zu werden«, entgegnete sie entschlossen. »Einmal reicht.«
Da mußte Cassius lachen, wenngleich sein Blick voller Sorge blieb. »Nein, mein Kind, ich glaube, diesen Plan können wir getrost verwerfen. Aber ich habe einen anderen Einfall, der weniger gefährlich, dafür um so
wirkungsvoller ist. Beschreibe mir den Mann in der Kammer, den du in deiner Vision gesehen hast.«
Sie rief sich sein Bild vor Augen, doch es blieb verschwommen, seltsam formlos. »Sehr helle Haare«, sagte sie, »fast weiß. Genau wie seine Haut. Er trug einfache Kleidung, vielleicht sogar Lumpen. Weißt du, wer er ist?«
»Er könnte es sein«, sagte Cassius
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