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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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stürmte vor und riß dabei das kleine Messer aus ihrem Stiefel. Sie trug nicht mehr das lange Kleid, sondern wieder ihre Hose, und schon verwünschte sie den
    eng anliegenden Stoff. Unterm Kleid hätte sie vielschneller nach dem Messer greifen können.
    Die Klinge war winzig, zwar dick und leidlich scharf, aber kaum länger als ihr Zeigefinger. Als Waffe völlig ungeeignet. Doch für das, was Sarai vorhatte, mochte sie ausreichend sein.
    Die Eisenklinke knirschte. Die Tür wurde aufgedrückt. Einen Fingerbreit...
    Sarai sprang mit ausgestreckten Armen nach vorn. Sie prallte der Länge nach auf den Boden, schürfte sich die Haut an den groben Holzbohlen auf, rutschte weiter vorwärts, das Messer weit vorgestreckt. Ungeachtet ihrer Schmerzen, mit zusammengepreßten Lippen, rammte sie die Klinge wie einen Keil in den dünnen Spalt unter der Tür. Sofort verkantete sich das Messerund versperrte den Zugang. Dann lief Sarai hinüber zu der Leiter, die zur Dachluke führte. Sie erklomm die unteren Stufen, verharrte, holte Luft und kletterte den Rest hinauf. Unter der Luke hielt sie an und blickte zurück.
    Eine Hand hatte sich durch den Türspalt geschoben. Erst glaubte Sarai, die Finger tasteten nach etwas, einem Riegel oder einer Stuhllehne, die das Öffnen verhinderte. Dann aber löste sich die Hand von der Holzkante und winkte ihr zu! Sie winkte genau in Sarais Richtung! Als wüßte derjenige, der hinter der Tür stand, ganz genau, wo sie stand. Doch dazu hätte er durch das Holz hindurchsehen müssen!
    Sarai entschied, keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Ihre Angst war auch so groß genug. Stattdessen drückte sie mit beiden Händen gegen die Dachluke und stieß sie nach außen. Die Helligkeit war so grell wie funkelnder Schnee. Der dichte Nebel schien von innen heraus zu leuchten. Tatsächlich aber war es die Sonne, die ihren höchsten Stand erreichte und die Schwaden zum Glitzern brachte.
    Geschwind - im Klettern hatte sie weiß Gott Übung! zog Sarai sich über die Kante nach draußen. Sie hörte noch, wie unten die Tür mit Gewalt aufgestoßen wurde, dann kroch sie über die steile Schräge aufwärts zum Dachfirst. Hier herauf konnte der Rabbi ihr unmöglich folgen - falls es wirklich der Rabbi war, der außen vor der Tür gestanden hatte.
    Sarai erreichte den Dachfirst, blickte sich hilflos um und beschloß dann, an ihm entlang zu einem der beiden Giebel zu klettern. Grau und eckig waren sie kaum mehr als Schemen vor und hinter ihr im Nebel, wie die Segel düsterer Geisterschiffe. Es war vollkommen windstill, nicht der geringste Luftzug wehte. Nicht einmal Geräusche von unten aus den Gassen drangen bis zu ihr herauf. Das Fehlen von Lauten und nahezu allen Formen außer der des schwarzen Daches war gespenstisch. Sie hätte ebenso auf dem höchsten Berg der Welt sitzen mögen, in diesem Augenblick hätte es kaum einen Unterschied gemacht.
    Ein Kopf schob sich durch die Dachluke, dann Schultern und Oberkörper. Eine Gestalt im schwarzen Mantel zog sich hinaus aufs Dach und folgte Sarai weiter nach oben, ungemein flink, mit schnellen, beinah übermenschlichen Bewegungen. Ein schwarzer Schatten, der gebückt an der Schräge emporglitt, im Nebel völlig gesichtslos.
    Das war kein Rabbi. Sarai wurde plötzlich von solcher Furcht gepackt, daß sie fast vergaß, wo sie sich befand. Während sie sich noch nach ihrem stummen Verfolger umsah, verlor sie plötzlich ihr Gleichgewicht und drohte nach hinten überzukippen.
    »Gib acht!« raunte ihr eine Stimme durch die Nebelschwaden zu.
    Sarai gelang es im letzten Moment, mit beiden Händen eine Ziegelkante zu packen. Schweratmend schob sie sich auf dem Dachfirst weiter in die Richtung des vor
    deren Giebels. Sie hatte nicht den geringsten Einfall, was sie tun sollte, falls sie dort jemals ankam. Der Boden befand sich viele Mannslängen unter ihr, und es gab keine Streben, Stufen oder auch nur Äste nahestehender Bäume, an denen sie hätte herabklettern können. Wohin sie hier oben auch kriechen mochte, sie saß in der Falle. Alles, was sie jetzt noch tun konnte, war, ihr Schicksal aufzuschieben.
    Aber welches Schicksal?
    Ihr Verfolger hatte sie gewarnt, als sie herabzufallen drohte. Bedeutete das, er trachtete nicht nach ihrem Leben? Sarai wollte es nicht darauf ankommen lassen und kletterte weiter, mühevoll, aber vergeblich. Die schwarze Gestalt schob sich unglaublich schnell hinter ihr her, flach auf allen vieren, fast wie eine Spinne. Der schwarze Umhang

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