Der Schattenesser
floß über ihren Körper und verwischte alle Umrisse. Die Nebelwand tat ein übriges, den unheimlichen Verfolger zu verschleiern. Er wirkte bedrohlicher als alles, was Sarai bislang begegnet war, Hühnerweiber und Ligasöldner eingeschlossen.
Der Fremde erreichte den Dachfirst. Er war noch etwa zwei Mannslängen von Sarai entfernt, als er sich ruckartig aufrichtete, je einen Fuß auf jeder Seite des Firstes, und völlig unbewegt stehenblieb, als könne ihm die Höhe nicht das geringste ausmachen. Seine Stiefel schienen förmlich an den schlüpfrigen Ziegeln zu haften, er spreizte beide Arme und sah Sarai durch den hellen Nebel hindurch an. Sein Gesicht war durch die Schwaden kaum mehr als ein grauer, wabernder Fleck.
»Warum fliehst du vor mir?« fragte er mit wesenloser Stimme. »Ich bin der mal'ak Jahve. Ich bin der Bote des Herrn. Ich bin die zehnte Plage.«
Es widerstrebte Sarai ihn anzusehen, und doch konnte sie nicht anders. Ängstlich kauerte sie auf dem Dachfirst, nur noch einen Schritt vom Giebel entfernt, und starrte die düstere Erscheinung an. Ihr Mund öffnete sich beinahe gegen ihren Willen, aber sie brachte kein Wort heraus.
Die zehnte Plage. Was wollte er nur von ihr? Dabei ahnte sie es doch längst - dasselbe wie von all den anderen vor ihr.
Sie blickte an sich hinunter und stellte voller Entsetzen fest, daß sie keinen Schatten warf. Hatte er sein Werk bereits vollendet? War ihr Schatten schon fort, wie bei seinen vorherigen Opfern? Würde auch sie schon bald allen Lebensmut verlieren und ihrem Dasein selbst ein Ende bereiten?
»Es wird dir nicht helfen, deinen Schatten vor mir zu verstecken«, sprach der Bote. Verstecken? dachte sie verwirrt. Was meinte er damit? Sie konnte ihren Schatten nicht verstecken. Dann aber begriff sie, und fast hätte sie lauthals aufgelacht.
Es war der Nebel! Der Nebel und die Sonne an ihrem höchsten Punkt! Die grelle Helligkeit, die sie von allen Seiten umgab, gestattete ihrem Körper nicht, einen Schatten zu werfen. Das Licht war zu durchdringend, zu leuchtend, und mit Hilfe des gleißenden Nebels kroch es selbst in die engsten Winkel und Ritzen. Der Bote hatte recht: Ihr Schatten war versteckt! Und offenbar hatte die unheimliche Erscheinung keine Macht darüber, so lange er verschwunden blieb.
Aber sie wußte auch, daß es schon in wenigen Augenblicken ganz anders aussehen konnte. Die Sonne würde weiter wandern, das Licht würde sich verschieben, und langsam, ganz langsam würde der Schatten unter der lichtabgewandten Seite ihres Körpers hervorkriechen.
Spätestens dann war sie dem Boten ausgeliefert - was immer er dann mit ihr tun würde. Der Zufall hatte ihr Schicksal aufgeschoben, aber keineswegs vereitelt. Der mal'ak Jahve wußte das nur zu gut. »Wir sind es
gewohnt, äonenlang auf ein Wort von Ihm zu warten. Ich kann die nächsten Jahrhunderte auf deinen Schatten warten.«
Die Erscheinung stand immer noch vollkommen reglos da, ein grauer Schemen hinter der wallenden Nebelmauer. Sarai hätte gern sein Gesicht gesehen, doch nur einen Herzschlag später besann sie sich eines Besseren: Sie war froh, daß sie es nicht sehen mußte. Sie wußte, wie es anderen ergangen war, die sich nach Gottes Macht und Antlitz umgewandt hatten.
Sarai wagte nicht, sich zu bewegen, aus Angst, eines ihrer Glieder könne dadurch einen Schatten werfen. Sie ahnte, daß das kleinste Stück groß genug für den Boten sein würde. Was sie nicht wußte, war, wie er ihr den Schatten nehmen wollte. Während der ganzen letzten Tage hatte sie sich darüber keine Gedanken gemacht. Sie hatte es als Tatsache hingenommen, so wie sie Wetter und Tageslicht hinnahm. Jetzt aber, da sie selbst kurz davorstand, sein nächstes Opfer zu werden, fragte sie sich, ob es schmerzen würde.
»Nein«, sagte der mal'ak Jahve, der ihre Gedanken las, »du wirst keinen Schmerz fühlen. Du wirst nichts dabei spüren. Allen anderen nahm ich den Schatten im Schlaf, und sie sind nicht davon erwacht.«
Sie fragte sich, ob Engel lügen konnten.
Und wieder sagte der Bote: »Nein.«
Da öffnete er seinen Mantel, fächerte ihn mit beiden Armen auf wie Fledermausschwingen, und inmitten dieses schwarzen Segels, dort, wo sich bei einem Menschen die Hüfte befand, glomm ein schwaches Schimmern auf. Je länger Sarai darauf starrte, desto heller wurde es. Schon wenige Atemzüge später brannte es mit der Glut einer Fackel, und immer noch wurde es heller und heller, als ginge im Dunkel des Umhangs eine zweiteSonne
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