Der Schattenesser
auf.
Entsetzt blickte Sarai dorthin, wo ihr eigener Körper das Dach berührte - und da war er: Ihr Schatten schob sich fingerbreit unter ihrer Kleidung und ihren Handflächen hervor wie eine dunkle, zähe Flüssigkeit. Die Sonne war weitergewandert.
Das Licht im Zentrum der Erscheinung wurde immer greller, funkelte jetzt wie ein prachtvoller Edelstein. Allmählich überstrahlte es die Formen der Gestalt mit seinem Gleißen, bis sie eins wurde mit dem weißen Nebel.
Es mußte dieses Licht sein, mit dem der Bote den Menschen die Schatten nahm. Die Helligkeit brannte sie aus ihren Körpern wie ein Geschwür, ganz so, wie auch gewöhnliches Licht die Schatten vertrieb - mit dem einzigen Unterschied, daß das Licht des Engels eine bleibende Wirkung besaß.
Ein hölzernes Knirschen ließ Sarai herumwirbeln. Eine Mannslänge unter ihr, inmitten der Schräge, hatte sich eine zweite Dachluke geöffnet. Heraus schaute ein weißer, verschwommener Fleck, das Gesicht des Golem. Er rief ihr etwas zu, das sie nicht verstand, aber das war auch nicht nötig. Sie begriff auch so, was zu tun war. Mit einem Keuchen ließ sie sich zur Seite fallen, rutschte krachend und scheppernd die Schräge hinunter, direkt auf die Luke zu. Zwei weiße Hände packten sie, ehe sie an der Öffnung vorüberrutschen konnte, rissen sie kraftvoll herum und zogen sie durch die Luke unters Dach. Das letzte, was Sarai an der Außenseite wahrnahm, war ein überirdisch strahlender Lichtschein, der sich wie eine Sturzflut hinter ihr über die Ziegeln ergoß und sie trotzdem verfehlte. Ehe das Licht des Boten sie erreichen konnte, klappte die Luke hinter ihr zu.
Der Golem hielt sie wie ein Spielzeug mühelos unter seinem linken Arm, während er mit der rechten Hand die Öffnung verschloß und sich dann entlang der Leiter in die Tiefe der Kammer hangelte. Das zusätzliche Gewicht schien ihn nicht zu behindern.
Als sie am Boden ankamen, riß Sarai sich von ihm los und wich mehrere Schritte zurück in die Richtung der Tür.
»Geh nicht dort hinaus«, sagte der Golem mit sanfter, jugendlicher Stimme. »Dort draußen läufst du ihm direkt in die Arme. Nur in dieser Kammer bist du sicher. Kein nichtmenschliches Wesen kann die unsichtbaren Barrieren durchdringen, die mein Meister gesponnen hat. Nicht in die eine und nicht in die andere Richtung. Auch kein mal'ak Jahve.«
Sarai hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, so kraftlos war sie. Sie taumelte und stützte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Die weiße Gestalt des Golem verschwand vor ihren Augen.
»Was ... was war das?« fragte sie schwach.
»Bist du deshalb hierhergekommen?« wollte er im Gegenzug wissen. »Um diese Frage zu stellen?«
»Ich glaube schon«, brachte sie hervor. Der Golem setzte sich auf eine der unteren Leitersprossen und zog ein Bein an. In dieser Pose wirkte er gelassen, fast aufreizend. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch im selben Augenblick ertönte hoch über ihnen auf dem Dach ein gellender Schrei voller Zorn und Enttäuschung.
Der Golem lächelte freundlich. »Er hat bemerkt, daß du fort bist. Es gefällt ihm nicht, überhaupt nicht.«
»Was war das für ein Licht?« fragte sie und blickte furchtsam zur Luke hinauf. Sie erwartete, daß der Bote jeden Moment hindurchbersten könnte, doch nichts dergleichen geschah. Plötzlich herrschte auf dem Dach völlige Stille.
»Er ist fort«, sagte der Golem. »Das Licht war der Machtglanz des mal'ak Jahve. Oder, wie es im Hebräischen heißt, seine Doxa. Ganz so, wie es in der Bibel steht: Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und der Glanz des Herrn umstrahlte sie, schreibt Lukas. Und bei Matthäus heißt es: Sein Aussehen war wie der Blitz.«
»Nimmt er damit den Menschen die Schatten?«
»Das tut er.«
»Wie kann er solche Macht besitzen?« fragte sie verstört.
Der Golem schüttelte sanft den Kopf. »Du verstehst noch immer nicht, nicht wahr? Der, den du eben gesehen hast, ist ein mal'ak Jahve, ein Bote Gottes, ein Engel. Er vermag alles, wozu sein Herr ihm die Macht verleiht. Einst war er der Würgeengel der Heiligen Schrift. Er war der Pestengel, der die assyrischen Heere Sennacheribs vor Jerusalem zur Umkehr zwang. Und als zehnte Plage Gottes raffte er die erstgeborenen Söhne Ägyptens dahin. Der Herr verleiht ihm alle Kraft, die nötig ist, seine Aufträge auszuführen. Mal zerstört er Welten, ein andermal nur Schatten. Lange schon wacht er über die Geschicke der Menschheit, und er straft, wo Strafe
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