Der Schattenesser
vonnöten ist.«
»Mit diesem Licht, seiner - wie hast du es genannt?«
»Doxa.«
»Mit dieser ... Doxa also, kann er den Menschen die Schatten rauben?«
»Natürlich. Nur Licht kann einen Schatten vertreiben. Der Machtglanz der Engel ist oft beschrieben worden. In der Apokalypse steht: Sein Angesicht ist wie die Sonne, und: Die Erde war erleuchtet vom Glanz des Engels. Lukas schreibt...«
»Schon gut«, unterbrach Sarai ihn ungeduldig. »Du kennst dich gut aus in der Bibel.«
»Das stimmt«, erwiderte er ohne Stolz, als sei das völlig selbstverständlich. »In der Bibel, in der Thora, im Koran. Mein Meister hat mich vieles gelehrt.«
»Dein Meister war der Rabbi Löw?«
»Er ist es noch immer.«
»Aber der Rabbi ist schon lange tot.«
»Seine Macht aber besteht weiter«, widersprach der Golem. »Er hat deinen Schatten gerettet und dein Leben.«
Als sie ihn nur verständnislos ansah, fuhr er fort: »Ich kann diesen Raum nicht verlassen, denn Rabbi Löw gab mir nie den Befehl dazu. Er hat eine unsichtbare Grenze um diese Wände gezogen, die kein Nichtmensch durchschreiten kann, nicht von außen und nicht von innen. Dieselbe Kraft, die mich in dieser Kammer gefangen hält, verwehrte dem mal'ak Jahve den Eintritt.«
Sarai glitt erschöpft an der Wand hinunter und hockte sich auf den Boden. Sie zog ihre Knie an und verschränkte die Arme davor. »Wieso hat man dich nicht früher entdeckt?«
»Der Speicher stand voll mit wertvollen Gegenständen und Möbeln aus vielen hundert Jahren Prager Judentums. Die Söldner haben vor wenigen Tagen allesfortgeschleppt. Bis dahin muß es unmöglich gewesen sein , die Tür zu dieser Kammer zu entdecken. Vermutlich wußte es der Rabbiner der Synagoge, aber er hat nie gewagt, nach mir zu suchen.«
Sarai hörte kaum zu. In ihrem Kopf wirbelten noch immer die Bilder vom Angriff des Engels umher. Das Licht, dieses unglaublich helle Licht ... »Warum tut erdas? Warum zerstört er die Schatten der Menschen? Was haben sie getan, daß Gott sie bestraft?«
»Die Menschen haben nichts getan«, entgegnete der Golem. »Zumindest nichts, das eine solche Strafe rechtfertigt. Der mal'ak Jahve ist auf der Jagd nach etwas anderem. Ich habe lange gebraucht, bis ich das begriffen habe.«
»Was jagt er?«
»Es ist schwer, das zu erklären, und noch schwerer, es zu verstehen.« »Ich will es aber wissen.« Der Golem erhob sich von der Leitersprosse, auf der
er gesessen hatte, und begann unruhig im Raum auf-und abzugehen. Zum erstenmal betrachtete sie ihn genauer: Seine Haut und sein Haar waren aus der Nähe besehen nicht mehr vollkommen weiß. Beides besaß denselben blassen Farbton, fast wie Eierschalen. Seine Züge waren feingeschnitten, keineswegs das grobgeformte Gesicht, das sie erwartet hatte. Seine Augen standen leicht schräg, seine Lippen waren schmal. Er war nichtwirklich schön, aber etwas war an ihm, das ihn auf fremdartige Weise anziehend machte. Es fiel nicht schwer, ihm zu vertrauen. Er hatte ihr Leben gerettet, das zählte einiges. Der Rabbi Löw hatte den Golem geschaffen, um Gutes zu tun. Daß dieses >Gute< auch die Ermordung befeindeter Christen vorsah, daran erinnerte sie sich erst später.
»Du kennst die Geschichte vom Fall der Engel?« fragte der Golem.
Sarai nickte. »Gott verstieß jene Engel, die sich zu Anbeginn der Zeit gegen ihn wandten, aus seinem Himmelreich. Sie stürzten hinab in die Hölle.«
»Und allen voran stürzte Luzifer, der Lichtbringer, der Erste der Gefallenen«, fügte der Golem hinzu. »Sie fielen, in der Tat, und sie stürzten tief und immer tiefer, bis sie in eine Welt gelangten, die fortan ihre Hölle wurde. Aber es war nicht die Hölle der Legenden. Es war unsere Welt. Dies hier« - er drehte sich und wies mit ausgebreiteten Armen auf die Umgebung - »die Stadt, das Land, alles - das ist die Hölle der Gefallenen, und hier existieren sie bis zum Ende aller Zeiten.«
Sarai hatte in den vergangenen Tagen vieles erlebt, das ihr früher unglaublich erschienen wäre, und darum zweifelte sie auch jetzt nicht einen Atemzug lang an den Worten des Golem. Es gab Engel. Sie war eben erst einem begegnet. Und war der Mann, der jetzt vor ihr stand, nicht einst ein Brocken Lehm gewesen? Warum also hätten sie Zweifel überkommen sollen?
Sie hörte seine Worte - und glaubte sie.
»Die Gefallenen sind überall um uns, unsichtbar, wenigstens für euch Menschen«, fuhr er fort. »Niemand
sieht sie, und nur wenige spüren ihre Anwesenheit, aber jene
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