Der Schattengaenger
sie behielt ihre Ängste für sich. Als müsse sie ihn davor schützen.
Tilo verzog schmerzlich das Gesicht und griff sich ans linke Ohr. Sofort sprang sie auf und beugte sich über ihn. »Was ist …«
Im nächsten Moment hatte Tilo sie zu sich aufs Bett gezogen. Sie war so überrascht, dass sie sich nicht wehrte.
»Das hat oberste Priorität«, sagte Tilo leise und vergrub den Teil des Gesichts in ihrem Haar, der nicht bandagiert war. »Und das.« Mit der Zungenspitze liebkoste er ihren Hals. »Und das.« Er drehte ihr Gesicht zu sich herum und sah ihr in die Augen, bevor er sie küsste.
Erst wenn sie sich von einer Situation unterkriegen ließen, hatten sie wirklich ein Problem. Er würde alles daransetzen, dass es nicht so weit kam.
»Was ist mit Ihnen, Kindchen?« Frau Sternberg studierte aufmerksam mein Gesicht. »Sie sind ja gar nicht richtig hier.«
Die alte Dame war mir so was wie eine zweite Großmutter geworden in all den Monaten, die ich mittlerweile im St. Marien arbeitete. Ich mochte sie sehr, egal ob sie gerade verwirrt war oder bei klarem Verstand. Zu sehen, wie ihre klaren Augenblicke weniger und weniger wurden, tat mir weh.
»Ich bin verabredet«, vertraute ich ihr an, und mein Herz hüpfte auf. Ich konnte es nicht glauben, dass ich Luke wirklich treffen würde.
»Ein Rendezvous?« Sie zog die Augenbrauen hoch, die sie sich flüchtig und schief übermalt hatte. »Mit einem Kavalier?«
Ab und zu benutzte sie Worte aus den dicken Romanen, die sie so gern las, Geschichten aus vergangenen Jahrhunderten, in denen die Frauen noch Damen gewesen waren und die Männer vornehme Herren.
»Mit Luke«, sagte ich.
»Luke.« Sie ließ den Namen eine Weile in ihrem Kopf nachklingen. »Ist er Amerikaner?« Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern stand aus ihrem Sessel auf und stellte sich ans Fenster. »Wie schön das Licht ist«, sagte sie. »Und wie lang der Tag.«
Ich wusste, sie würde jetzt nichts mehr sagen, sie würde stundenlang am Fenster stehen bleiben und einfach hinausschauen. Ich legte ihr ihre warme Stola um die Schultern und verließ leise das Zimmer.
Luke. Auch Merle war über den Namen gestolpert. Mir gefiel er. Lucky Luke und Jolly Jumper. Ich hatte die Comics früher verschlungen. Der Name erinnerte mich aber auch ein bisschen an Popeye, den Seemann, und an die Western, die ich mir als Kind mit meinem Vater zusammen angeschaut hatte. Mir wurde bewusst, dass ich die Vorlieben und Abneigungen meines Vaters längst nicht mehr kannte und dass ich schon lange nichts mehr mit ihm unternommen hatte. Was wahrscheinlich daran lag, dass ich ihn bloß noch im Dreierpack mit seiner neuen Frau Angie und meinem kleinen Halbbruder haben konnte, und darauf verzichtete ich gern.
Schwamm drüber. Nichts sollte mir den Tag vermiesen. Noch drei Stunden, dann würde ich Luke sehen. In mir rumorten die widerstreitendsten Gefühle. Im einen Moment war mir schwindlig vor Glückseligkeit, im nächsten stülpte sich mir vor Angst der Magen um. Meine Füße waren eiskalt, meine Hände feucht, mein Kopf glühte, und ich rannte ständig zum Klo.
Liebeskrank.
Das Wort taumelte durch meine Gedanken. Wie schrecklich war es, sich zu verlieben. Und wie schön.
Denn ich war im Begriff, mich zu verlieben. Das wurde mir plötzlich klar. Ein Tränenschleier ließ meine Umgebung verschwimmen. Ich war doch noch gar nicht so weit. Nicht vorbereitet darauf, einen Menschen so nah an mich heranzulassen. Ihn anzuschauen, trunken vor Zärtlichkeit. Ihm mit den Fingern durchs Haar zu streichen. Den Duft seiner Haut einzuatmen. Seinen Namen zu flüstern.
Und gleich hatte ich das Bedürfnis, alles wieder rückgängig zu machen, das Treffen abzusagen und Luke nie wiederzusehen.
»Hoppla!« Der Professor hatte mich lachend bei den Armen gefasst, um mir Halt zu geben. In Gedanken versunken, war ich direkt in ihn hineingelaufen. »So eilig?«
»Nein«, antwortete ich beschämt. »Eigentlich nicht.«
Wenn man in einem Heim für Demenzkranke arbeitet, hat man jederzeit voll und ganz bei der Sache zu sein. Es gibt keine Entschuldigung für Halbherzigkeit.
Der Professor ließ mich los und blickte freundlich auf mich herunter. Er war groß und hager und immer sorgfältig gekleidet, selbst wenn er mit seinen Depressionen zu kämpfen hatte. Diesmal trug er einen dunkelgrauen Anzug mit einem fliederfarbenen Hemd und einer Krawatte in tiefstem Aubergine. Seine Augen hinter den runden Brillengläsern waren von einem Kranz tief
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