Der Schattengaenger
eingekerbter Falten umgeben, die zeigten, dass er früher einmal viel gelacht haben musste.
Er konnte immer noch fröhlich sein, obwohl er von seiner fortschreitenden Demenz wusste, obwohl ihm die Gedanken immer öfter entglitten und ihn die schwarzen Stimmungen immer häufiger niederdrückten.
»Das Leben ist ein Wagnis«, sagte er und lächelte mich bedeutsam an.
Perplex starrte ich zu ihm hinauf. Standen mir meine Gefühle so deutlich auf der Stirn? Wusste er, wie mir zumute war?
Er zwinkerte mir zu und ging weiter den Flur entlang, der zu seinem Zimmer führte. Seine Schritte waren heute sicherer als sonst. Ich wünschte ihm, dass das eine Weile so bleiben würde.
Ich sammelte das schmutzige Geschirr ein, das hier und da vergessen auf den Tischen stand, fleckige Gläser, Tassen mit eingetrocknetem Kaffeesatz, Teller, von denen Kuchen gegessen worden war, trug es in die Küche und räumte es in die Spülmaschine. Meine Handgriffe kamen mir auf einmal vor wie losgelöst von mir. Ich konnte meinen Händen dabei zusehen, wie sie ihre Arbeit verrichteten, als hätten sie nichts mit mir zu tun.
Ich streckte sie aus und bewegte die Finger.
Er liebt mich. Er liebt mich nicht. Liebt mich …
Ich dachte an Luke und stellte bestürzt fest, dass ich vergessen hatte, wie sein Gesicht aussah.
Liebt mich. Liebt mich nicht …
»Es sollten zehn sein. Fünf an jeder Hand.«
Wie ertappt fuhr ich zu Frau Stein herum. Sie stand da, gegen den Türpfosten gelehnt, und betrachtete mich mit spöttischer Miene. Wie lange schon?
Ich versteckte die Hände hinterm Rücken. Wie ein Kind. Beschämt zog ich sie wieder hervor. Meine Wangen brannten. Wahrscheinlich sah mir wirklich jeder an, was mit mir los war. Verliebt, verlobt, verheiratet.
Geschieden, hörte ich die Stimme meiner Mutter weit hinten in meinem Kopf. Meine Mutter liebt es, sich in meine Angelegenheiten einzumischen. Sie kann gar nicht anders.
Die Heimleiterin weidete sich nicht an meiner Verlegenheit. »War nur ein Scherz«, sagte sie und lächelte müde. »Leider nicht der beste, aber man kann nicht unentwegt in Hochform sein.«
Sie war rund um die Uhr aktiv, betrat das Haus morgens als Erste und verließ es abends als Letzte. Die Arbeit für dieses Heim war ihre Berufung. Sie opferte ihr alles, sogar ihr Privatleben, denn sie war nicht verheiratet und hatte keine Kinder.
Frau Stein rieb sich das Gesicht, griff in die Tasche ihres Blazers und zog ein ramponiertes Päckchen Zigaretten hervor. Dann öffnete sie die Tür, die auf die kleine Terrasse führte. »Leistest du mir Gesellschaft?«
Ich trat neben sie und fühlte die kalte Luft auf dem Gesicht. Sie kühlte mir die Wangen und brachte mich auf den Boden zurück.
»Auch eine?«
Ich schüttelte den Kopf und sah Frau Stein dabei zu, wie sie sich mit ihrem Feuerzeug abmühte. Nach fünf unergiebigen Funkenflügen züngelte endlich ein bescheidenes Flämmchen auf und setzte die Spitze der Zigarette knisternd in Brand. Frau Stein nahm einen tiefen Zug, behielt den Rauch ein paar Sekunden lang in der Lunge und atmete mit einem leisen, wohligen Stöhnen aus.
»Gut, dass du das Zeug nicht anrührst«, sagte sie und schnipste hellgraue Asche auf den Weg. »Bleib dabei.«
Eine Weile standen wir schweigend nebeneinander. Der Rauch roch angenehm würzig, solange ich ihn nicht direkt in die Nase bekam. Nach dem letzten Zug zertrat Frau Stein den Stummel und hob ihn auf, um ihn zu entsorgen.
»Pass auf dich auf«, sagte sie, klopfte mir auf die Schulter und ging wieder in ihr Büro zurück.
Ich blieb noch einen Moment draußen und ließ den Blick durch den kleinen Kräutergarten spazieren. Pass auf dich auf. Was, zum Teufel, hatte sie damit gemeint?
Imke saß am Schreibtisch und brütete über den Korrekturfahnen ihres neuen Romans. Sie hasste diese Arbeit mit aller Inbrunst. Jedes Mal hatte sie das Bedürfnis, das halbe Buch umzuschreiben, und konnte sich nur mit Mühe bremsen.
Sie las mit einer solchen Anspannung (um keinen Fehler zu übersehen) und langweilte sich gleichzeitig so tödlich (weil sie jeden Satz auswendig wusste), dass sie nach kurzer Zeit Kopfschmerzen bekam. Trotzdem zwang sie sich, am Schreibtisch sitzen zu bleiben, die Fahnen vor sich, den Kugelschreiber in der Hand.
Sie fand Rechtschreibfehler, falsche Trennungen und leider auch Wiederholungen, die sie störten. Ihre Anspannung verstärkte sich, die Kopfschmerzen verteilten sich von den Schläfen aus über die gesamte
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