Der Schattengaenger
Das war sie ganz und gar nicht.
Jette hatte ihr die Augen zugedrückt. Sie hatte es instinktiv getan.
»Tut mir leid«, hatte sie gestammelt. »Ich hab nicht daran gedacht, dass ich nichts anfassen durfte. Ich … ihr Blick war so …«
»Schon gut.«
Bert hatte ihr keinen Vorwurf gemacht. Er konnte sie nur zu gut verstehen. Der Blick toter Menschen war schwer auszuhalten. Er selbst hatte Jahre gebraucht, um sich daran zu gewöhnen, falls man sich je daran gewöhnen konnte. Noch heute fiel es ihm manchmal schwer hinzusehen.
Langsam richtete er sich wieder auf. Er hörte Geräusche im Haus. Die Kollegen von der Spurensicherung waren angekommen.
Er gab sich einen Ruck und ging ihnen entgegen.
Manuel hatte Mühe, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er schaffte es kaum, die Hände ruhig zu halten. Alles in ihm war in Aufruhr. Noch nie war er so sehr Spielball seiner Gefühle gewesen und sich selbst so … ausgeliefert.
Er hatte die Frau nicht umbringen wollen. Es war nicht sein Plan gewesen. Er hätte ihr kein Haar gekrümmt - wenn sie nur ein bisschen kooperativ gewesen wäre. Noch während er das dachte, wusste er, dass er sich da etwas vormachte. Die Situation hatte ihm keine Wahl gelassen.
Eigentlich hatte einzig und allein Imke Thalheim den Tod ihrer Putzfrau zu verantworten. Sie war es, die ihn so weit gebracht hatte. Frustriert zog er das Klemmbrett heran, um ein paar Daten einzutragen. Er drückte den Kugelschreiber so fest auf, dass die Spitze das Papier durchstieß.
Der Boss war für eine knappe Woche unterwegs in irgendwelchen Geschäften. Der Meister begleitete ihn. Für die Dauer ihrer Abwesenheit war es Manuel, der in der Werkstatt das Sagen hatte.
Normalerweise war ihm das eher lästig. Der erste Platz in der Rangordnung bedeutete ihm nichts. Er fand keinen Gefallen daran, andere springen zu lassen. Diesmal jedoch war ihm die Rollenverteilung gelegen gekommen. Er brauchte niemandem Rechenschaft abzulegen und konnte frei über seine Zeit verfügen.
Als ein Freund vom Boss seinen Mercedes für einen dieser Werktage zur Inspektion angemeldet hatte, hatte Manuel entschieden, dass der Augenblick für den Einstieg in Imke Thalheims Mühle gekommen war.
Der Mercedes zeigte Auffälligkeiten, die beim Computercheck nicht erfasst werden konnten, und da Alex darauf bestand, dass seine Freunde bevorzugt behandelt wurden, widmete Manuel dem Fahrzeug seine gesamte Aufmerksamkeit. Am späten Vormittag meldete er sich für eine längere Probefahrt ab, um den Unregelmäßigkeiten auf die Spur zu kommen, die er in Wirklichkeit längst behoben hatte.
Alle waren mit Arbeit zugeschüttet. Lars und Tonio pendelten überfordert und gereizt zwischen Werkstatt und Büro hin und her, denn Ellen hatte sich einen Magen-Darm-Virus eingefangen, der gerade in der Gegend grassierte, und Richie war mal wieder unentschuldigt ferngeblieben. Keiner nahm von Manuel groß Notiz.
Er hatte etwa zwei Stunden eingeplant. Zwei Stunden würde er glaubhaft rechtfertigen können und niemand würde sich darüber den Kopf zerbrechen. Es war gang und gäbe, Probefahrten mit Stippvisiten zum Imbiss zu verbinden, mit einem Trip zur Bank oder einem kleinen Umweg über zu Hause. Niemand kontrollierte, wie lange wer wohin unterwegs war.
Die Planung hatte gestimmt. Manuel hätte zügig die Mühle durchsucht und wäre wenig später wieder in der Werkstatt erschienen. Keiner hätte etwas Verdächtiges bemerkt. Alles wäre glattgegangen.
Wenn nicht plötzlich die vermaledeite Putzfrau aufgetaucht wäre.
Manuel hatte alles so minutiös bedacht. Er hatte den Mercedes im Wald abgestellt und das letzte Stück zu Fuß zurückgelegt, wie er das bei seinen Besuchen dort draußen immer getan hatte. Der kleine Wald gehörte zu Imke Thalheims Grundbesitz. Noch nie war Manuel hier einer Menschenseele begegnet. Es gab keine Straße, nicht einmal einen richtigen Weg, und ein Schild mit der Aufschrift Landschaftsschutzgebiet hielt Wanderer und andere Störenfriede davon ab, hier einzudringen.
Jede Kleinigkeit hatte er in seine Überlegungen einbezogen. Er wusste, dass er wahrscheinlich allein im Haus sein würde. Er hatte Handschuhe bei sich und Werkzeug, um sich Einlass zu verschaffen. Er hatte sich lange zuvor das passende Fenster ausgesucht. Nur daran, dass die Putzfrau gegen ihre Gewohnheit und wahrscheinlich zum allerersten Mal in ihrem Leben nach zehn Uhr an ihrem verdammten Arbeitsplatz aufkreuzen könnte, hatte er keinen Gedanken
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