Der Schattengaenger
einem entschuldigenden Schulterzucken nahm er das Gespräch an.
Nathan war der Vorwurf in Person. Während Bert leise telefonierte, klopfte er ungeduldig mit dem Ende seines Designerkugelschreibers auf die Krankenpapiere seines Patienten.
»Entschuldige bitte! Ich muss weg.« Bert stand hastig auf und stopfte das Handy in die Tasche zurück. »Ein andermal.«
Und damit war er schon aus der Tür, durchquerte im Laufschritt das Wartezimmer und sprang die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Er warf sich in seinen Wagen und brauste los.
Es war überraschend wenig Verkehr auf den Straßen und Bert kam zügig voran. Sein Blutdruck schien die Höchstmarke erreicht zu haben, er fühlte seinen viel zu schnellen Pulsschlag im Hals.
Wie gut, dass Imke Thalheim in Sicherheit war.
Kapitel 16
Fünf Minuten nach Jettes Anruf war Tilo schon auf dem Weg zur Mühle. Ruth hatte es übernommen, die Nachmittagstermine abzusagen. Tilo war nur in absoluten Notfällen dazu bereit, Termine zu verschieben, und das nur mit Bauchschmerzen, doch die Furcht, die ihm jetzt in den Knochen saß, hatte jeden Gedanken an seine Patienten verscheucht. Er fuhr viel zu schnell und es war ihm egal. Die Vorstellung, dass Jette sich allein mit der toten Frau Bergerhausen im Haus befand, ließ ihn jegliche Vorsicht vergessen.
Fluchend kroch er zwei Straßenzüge lang hinter der Müllabfuhr her, überholte danach in waghalsigen Manövern sämtliche Fahrzeuge, die ihm den Weg versperrten, und verwandelte sich auf der Schnellstraße endgültig in einen Verkehrsrowdy, den er niemals in sich vermutet hätte.
Nicht schon wieder, dachte er, während die anderen Verkehrsteilnehmer hinter ihm her hupten, ihm den Mittelfinger zeigten, sich an die Stirn tippten oder ihn mit anderen unfeinen Gesten bedachten, nicht schon wieder ein Verbrechen, in das wir verwickelt werden.
Ihm wurde klar, dass er keine Sekunde lang an einen Unfall glaubte, wie Jette es offenbar tat. Frau Bergerhausen arbeitete schon so lange für Imke, ohne sich auch nur einen einzigen blauen Fleck geholt zu haben, da war es reichlich unwahrscheinlich, dass sie urplötzlich ausrutschte und dermaßen hollywoodreif die Treppe hinunterfiel.
Als er die Auffahrt zur Mühle erreicht hatte, registrierte er erleichtert, dass Jette nicht mehr allein war. Ein ganzer Wagenpark erwartete ihn im regnerischen Dunkel des Nachmittags. Die Rettungssanitäter, der Notarzt, die Streifenbeamten und auch der Kommissar waren bereits angekommen und alle schienen im Haus zu sein.
Tilo machte den Motor aus und rannte zur weit offen stehenden Tür. Er spürte einen bitteren Geschmack im Mund, aber er konnte ihn nicht hinunterschlucken. Er bekam einfach nicht genug Spucke zusammen. Er eilte durch die Halle, ignorierte die Männerstimmen, die aus dem Keller nach oben drangen, und hielt Ausschau nach Jette.
Sie stand im Wintergarten und sah in den Garten hinaus. Ihr Rücken war schmal und sehr gerade. Ihre Gestalt wirkte wie ein Scherenschnitt gegen das Licht, das von draußen hereinfiel, auch wenn es spärlich war.
Wie tapfer sie sich hält, dachte Tilo mitfühlend und rief sie leise beim Namen.
Jette drehte sich nach ihm um und er erschrak. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Ihre Augen schienen größer geworden zu sein. Ihre Lippen waren grau.
»Tilo.«
Bei seinem Anblick verlor sie die Fassung. Ihr Mund verzog sich. Ihre Lippen bebten. Sie ließ die Arme hängen und versteckte ihre Erschütterung und ihren Schmerz nicht länger.
Tilo nahm sie in die Arme und hielt sie fest. Draußen erhob sich der Bussard, den er insgeheim nur Imkes Zaubervogel nannte, in die feuchte, kalte Luft. Sein durchdringender Schrei gellte in der Stille.
Rettungsdienst und Notarzt hatten ihre Arbeit getan und waren zum nächsten Einsatz aufgebrochen. Zuvor hatten sie Jette ein Beruhigungsmittel angeboten, doch sie hatte abgelehnt. Tilo Baumgart war an ihrer Seite und kümmerte sich um sie. Er musste wie der Teufel hierhergefahren sein.
Bert war wieder in den Keller zurückgekehrt. Jeden Moment mussten die Kollegen von der Spurensicherung eintreffen.
Er ging neben der Toten in die Hocke und betrachtete ihr Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen. Der Mund war leicht geöffnet. Die Gesichter ermordeter Menschen strahlten in der Regel keine Ruhe aus und erst recht keinen Frieden. Bei diesem Gesicht war es anders. Es machte den Eindruck, als sei die Frau im Schlaf gestorben.
Doch das war sie nicht.
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