Der Schattenprinz
kichernd.
Tenaka Khan erwachte eine Stunde vor Sonnenaufgang und streckte die Hand nach Renya aus, doch das Bett war leer. Dann erinnerte er sich wieder und setzte sich auf, um sich den Schlaf aus den Augen zu reiben. Er glaubte, daß jemand seinen Namen gerufen hatte, doch es mußte wohl ein Traum gewesen sein.
Die Stimme erklang wieder, und Tenaka schwang die Beine aus dem Bett und blickte sich im Zelt um.
»Schließ die Augen, mein Freund, und entspanne dich«, sagte die Stimme.
Tenaka legte sich wieder hin. Vor seinem geistigen Auge erschien das schlanke, asketische Gesicht Decados.
»Wie lange brauchst du noch, bis du bei uns bist?«
»Fünf Tage. Wenn Steiger die Tore öffnet.«
»Dann werden wir tot sein.«
»Ich kann nicht schneller.«
»Wie viele Männer bringst du mit?«
»Vierzigtausend.«
»Du hast dich verändert, Tani.«
»Ich bin derselbe. Wie steht es bei Ananais?«
»Er vertraut auf dich.«
»Und die anderen?«
»Pagan und Parsal sind tot. Wir sind in die letzten Täler zurückgedrängt worden. Wir halten vielleicht noch drei Tage durch - aber nicht länger. Die Bastarde übersteigen unsere schlimmsten Befürchtungen.«
Tenaka erzählte ihm von seiner geisterhaften Begegnung mit Aulin und was der alte Mann gesagt hatte. Decado lauschte schweigend.
»Dann bist du also der Khan«, sagte er schließlich.
»Ja.«
»Leb wohl, Tani.«
In Tarsk öffnete Decado die Augen. Acuas und die Dreißig saßen im Kreis um ihn und hatten ihre Kräfte miteinander verbunden.
Jeder von ihnen hatte Tenaka Khans Worte gehört, aber noch wichtiger war, daß jeder in seine Gedanken eingedrungen war und sie geteilt hatte.
Decado holte tief Luft. »Nun?« fragte er Acuas.
»Wir sind verraten«, antwortete der Kriegerpriester.
»Noch nicht«, widersprach Decado. »Er wird kommen.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Ich weiß, was du gemeint hast. Aber die Zukunft soll sich um sich selbst kümmern. Unsere Aufgabe hier ist es, den Menschen von Skoda zu helfen. Keiner von uns wird noch am Leben sein, um zu sehen, was danach geschieht.«
»Aber wo liegt dann der Sinn?« fragte Balan. »Irgendetwas Gutes sollte durch unseren Tod bewirkt werden. Helfen wir denn lediglich dabei, einen Tyrannen gegen einen anderen auszutauschen?«
»Und wenn schon«, sagte Decado leise. »Die Quelle weiß es am besten. Wenn wir nicht daran glauben, ist alles umsonst.«
»Dann glaubst du jetzt also?« fragte Balan skeptisch.
»Ja, Balan, ich glaube. Ich habe es immer getan. Denn selbst in meiner Wut haderte ich mit der Quelle. Das allein war schon ein Eingeständnis des Glaubens, wenn ich es auch nicht erkannte. Aber der heutige Abend hat mich überzeugt.«
»Der Verrat eines Freundes hat dich überzeugt?« fragte Acuas erstaunt.
»Nein, nicht Verrat. Hoffnung. Ein Lichtschimmer. Ein Zeichen der Liebe. Aber darüber sprechen wir morgen. Heute Abend müssen wir Abschied nehmen.«
»Abschied?« fragte Acuas.
»Wir sind die Dreißig«, antwortete Decado. »Unsere Aufgabe ist fast erfüllt. Als Stimme der Dreißig bin ich der Abt der Schwerter. Ich werde hier sterben, doch die Dreißig müssen weiterleben. Wir haben heute Abend gesehen, daß eine neue Gefahr heranwächst und die Drenai uns in künftigen Tagen wieder brauchen werden. Wie in der Vergangenheit, so soll es auch jetzt sein. Einer von uns muß gehen, den Mantel des Abtes nehmen und eine neue Gruppe von Kriegern der Quelle heranbilden. Dieser Mann ist Katan, die Seele der Dreißig.«
»Das kann ich nicht sein«, widersprach Katan. »Ich glaube nicht an Mord und Tod.«
»Eben!« sagte Decado. »Doch du bist auserwählt. Mir scheint, daß die Quelle uns immer dazu ausersieht, Aufgaben zu erfüllen, die wider unsere Natur sind. Warum, weiß ich nicht … aber sie wird es wissen.
Ich bin zum Anführer nicht geeignet. Und doch hat die Quelle mir gestattet, ihre Macht zu sehen. Ich bin zufrieden. Wir anderen werden uns ihrem Willen beugen. Nun, Katan, bete uns zum letztenmal vor.«
In Katans Augen standen Tränen, als er betete. Eine tiefe Trauer überkam ihn. Zum Schluß umarmte er die Gefährten und ging in die Nacht davon. Wie würde er es schaffen? Wo würde er die neuen Dreißig finden? Er stieg auf sein Pferd und ritt ins Hochland in Richtung Vagria.
Auf einem Kamm, der die Flüchtlingssiedlung überblickte, sah er den jungen Ceorl am Wegrand sitzen. Er zügelte sein Pferd und stieg ab.
»Warum bist du hier, Ceorl?«
»Ein Mann kam zu mir und befahl mir,
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