Der Schattensucher (German Edition)
sonst. Das Schloss kannte er, also mussten zehn reichen. Viel mehr Zeit hatte er auch nicht, wenn er nicht vom Wächter überrascht werden wollte. Er drehte, kratzte, hakelte, suchte den Widerstand und achtete darauf, dass seine Manöver nicht zu laut waren. Er hörte Schritte. Seine Bewegungen wurden vorsichtiger. Er konnte noch abbrechen, schnell in einer Ecke verschwinden und die nächste Runde abwarten. Nein, es war zu spät. Der Wächter würde gleich hier sein. Es klackte. Er zog die Eisenstäbe heraus, drückte die Türklinke geräuschlos hinunter und sprang auf leisen Sohlen in den schwarzen Türspalt, der sich vor ihm öffnete. Schnell schloss er die Tür hinter sich, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und stellte fest, dass der Wächter offenbar ahnungslos vorbeimarschierte.
Der Lesesaal. Es war stockfinster. Levin rief sich die Gestalt des Raumes in Erinnerung, wie er sie am Abend noch erlebt hatte. Er hatte sich jedes Bücherregal gemerkt. Langsam schritt er zwischen den Reihen hindurch, tastete sich wie ein Blinder an den Regalen entlang und zählte die Schritte. Als er etwa die Mitte des Saales erreicht hatte, wandte er sich nach links, griff in eines der oberen Fächer und zog ein Buch heraus. Es hatte den vertrauten Umschlag und war mit einem Riemen verschlossen. Schnell löste er ihn, klappte den Deckel auf und holte die Gegenstände heraus, die sich in dem hohlen Buch verbargen: eine Kerze, Streichhölzer, eine Feder, Papier. Alles legte er auf den Tisch, das Buch schlug er zu. Dann zündete er die Kerze an und stellte sie auf. Sie flackerte spärlich vor sich hin und erhellte kaum mehr als den Tisch, auf dem das Papier mit der Feder lag. Doch es reichte, dass sie bis zur Wand des Saals einen Lichtschimmer warf.
Levin war zufrieden. Er ging zwei Reihen weiter, kletterte auf ein Regal und legte sich flach in den Schatten. Wenn er die Wächter nicht falsch einschätzte, würde alles so kommen, wie er es geplant hatte. Er war ein Meister darin, das Verhalten anderer zu analysieren, zu verallgemeinern und zu seinen Zwecken zu nutzen.
Das hatte er schon an seinem Vater geübt. Levin hatte bereits als zehnjähriger Junge gewusst, an welchen Tagen er sich nachts aus dem Fenster schleichen konnte, ohne dass der Vater nach ihm schaute. Er war dann durch die Straßen geschlichen, hatte in die Fenster gespäht und so die Lebensweise jedes Standes kennengelernt. Manchmal hatte er in die Gasthäuser geschaut, die Männer an den Tischen belauscht oder die Frauen beobachtet, die vor der Tür warteten und von Männern mitgenommen wurden. Bald hatte er gewusst, zu welcher Zeit ein Nachtwächter vorbeikam und wie laut er sein durfte, um nicht bemerkt zu werden. Er hatte kleine Gässchen entdeckt, Absätze, über die er klettern konnte, und unterirdische Wasserkanäle. Alsuna war für Levin bald keine große Stadt mehr gewesen, sondern nur noch ein Tummelplatz für seine Launen. Erstaunlich, dass ich trotzdem immer wieder einen neuen Ort kennenlerne, dachte er, als er die unbequemen Buchkanten unter sich spürte und plötzlich aufhorchte.
Er bemerkte etwas. Die Türklinke. Jemand öffnete sie so leise, dass er sie nicht gehört hätte, wenn er nicht aufmerksam gewesen wäre. Levin lächelte selbstzufrieden in sich hinein. Der Wächter handelte wie erwartet. Er hatte offenbar den Lichtschein der Kerze durch das Türschloss bemerkt, als er daran vorbeimarschiert war. Statt lautstark mit erhobenem Schwert einzudringen, glaubte er sich im Vorteil, wenn er sich unbemerkt hineinschlich. Vermutlich hatte er durch das Schloss beobachtet, dass die Tür, die er jetzt betrat, überwiegend im Dunkeln lag und von dem geheimnisvollen Eindringling nicht bemerkt werden würde. Ja, er glaubte tatsächlich, sich den Vorteil des Schattens zunutze machen zu können.
Levin bemühte sich, den Atem anzuhalten. Zugleich hoffte er, dass die völlige Stille im Raum den Wächter nicht misstrauisch machen würde. Er hörte, wie die Schritte näher kamen, sosehr der Mann sich auch bemühte, lautlos zu sein. Bald sah Levin ihn. Der spitze Helm und der Brustpanzer schimmerten leicht. In der Tat hatte der bullige Mann das Schwert gezogen. Er wandte den Kopf von rechts nach links, um den Raum abzusuchen. Eine flackernde Kerze, ein Stück Papier, ein Buch und eine Feder; das musste ihn auf den Gedanken bringen, dass der Eindringling irgendwo zwischen den Regalen umherschlich. Wenn er jetzt wirklich nachdenken würde , dachte Levin, dann wäre
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