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Der Schattensucher (German Edition)

Der Schattensucher (German Edition)

Titel: Der Schattensucher (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Braun
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bis zum Ende geblieben. Jeden Winkel hatte er sich angeschaut, jeden Vorgang beobachtet.
    Der Plan wird gelingen.
    Er versuchte durch das trübe Glas hindurch zu erkennen, was der Wächter tat. Doch dafür war es zu dunkel. Er sah nur, wie die Gestalt um die Ecke verschwand und bald auf der anderen Seite wieder auftauchte. Die Umrundung des Lesesaals dauerte kürzer, als er vermutet hatte. Ihm blieb nicht viel Zeit. Jede seiner nun folgenden Bewegungen ging er genau durch. Er durfte sich keinen Fehler erlauben. Als der Wächter wieder um die Ecke gebogen war, ging es los. Mit dem Meißel brach er den spröden Mörtel weg, der den eisernen Fensterrahmen in die Mauer einfasste. Bis der Wächter wiederkam, hatte er die erste Seite vom Mörtel befreit. Er hielt inne und wartete, bis er wieder allein war.
    Jede weitere Runde legte er das Fenster ein Stück weiter frei. Bald schon konnte er den Meißel am Fensterrahmen ansetzen und ihn, erst auf dieser, dann auf der anderen Seite, aus seiner Verankerung hebeln. Der Wächter kam gerade heran, als es Levin gelungen war, das Fenster geräuschvoll einen ganzen Spalt weit nach vorn zu kippen. Schnell brachte er es in seine ursprüngliche Position zurück und drückte sich an die Wand neben dem Fenster. Doch der Wächter zog nicht wie gewohnt am Fenster vorbei, sondern blieb in der Nähe stehen. »Was war das?«, murmelte er.
    Levin hielt den Atem an und vermied jede Bewegung. Der Wächter schien auf weitere Geräusche zu lauschen. Von den Häusern, die Levin um sich herum sehen konnte, ging kein Laut aus. Die Dächer lagen ruhig vor ihm, keine flatternden Vögel, keine vom Wind bewegten Ziegel. Es war die ohnmächtige Stille von Alsuna, die Levin sonst verachtete und die die Stadt zu seinem Opfer machte. Jetzt wünschte er sich, sie würde für einen Augenblick verschwinden. Er wünschte sich natürliche, lebendige Geräusche herbei, die verbergen würden, dass er dabei war, in ihre sichere Ordnung einzubrechen.
    Was, wenn er jetzt einfach das Fenster wegriss, hineingriff und den Wächter hinauszerrte? Der Mann würde schreien, sich wehren und dann hilflos hinabstürzen. Warum betrieb er diesen großen Aufwand, wenn er sein Hindernis einfach aus dem Weg räumen konnte? Etwas hielt ihn zurück. Es waren keine Skrupel. Er spürte vielmehr eine Enge und Unruhe bei dem Gedanken, seine Tarnung auffliegen zu lassen. Die Vorstellung, dass der Mann ihm in die Augen schauen würde, sie vielleicht sogar gegenseitig ihren Atem riechen würden, ließ ihn erschauern, und er drückte sich noch fester gegen die Wand. Außerdem würde er ja den Wächter noch brauchen.
    Endlich vernahm er ein Geräusch. Ein Rabe flatterte vom Giebel eines nahen Herrenhauses auf, flog auf ihn zu und setzte sich auf einen Absatz des Nebengebäudes. Zwei Meter war er entfernt. Levin starrte den Vogel an, als könne er ihn mit seinem Blick beschwören, ihn nicht zu verraten. Der Rabe schien zurückzustarren. Er hielt seinen Kopf fest auf Levin gerichtet und brachte ein kaum vernehmbares Gurren hervor. Bleib sitzen, mein Freund! , rief er ihm in Gedanken zu. Bleib sitzen und schau mich einfach an. Du kannst mir vertrauen.
    Als hätte er die Worte vernommen, aber falsch verstanden, stieß sich der Rabe ab und flog auf die andere Seite zu Levin ans Fenster. Den Blick immer noch auf den Eindringling gerichtet, spazierte er vor dem Fenster umher. Die tiefe Männerstimme aus dem Innern ließ ihn aufschrecken: »Ach, so ist das. Dachtest wohl, du könntest mich hier zum Narren halten, Piepmatz.« Die Stimme wurde lauter, der Wächter trat näher ans Fenster. »Na los, scher dich fort! Ihr scheißt uns nur die Mauern voll!« Er hatte den Satz kaum beendet, da flatterte der Rabe auch schon davon. Levin schaute ihm dankbar nach. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Vogel nicht rechtzeitig reagiert und der Wächter gegen die Scheibe geklopft hätte. Beruhigt stellte er fest, dass sich die Schritte entfernten und der Wächter wieder hinter der Ecke verschwand.
    Levin zögerte nicht. Er kippte das lose Fenster seitlich heraus, stieg in das Gebäude ein und zog das Fenster in seine normale Stellung zurück. Er schaute sich nicht lange um, sondern huschte durch den Gang, bis er eine der drei Türen zum Lesesaal erreicht hatte. Er zog zwei dünne Eisenstäbchen aus seiner Tasche, steckte sie blind ins Schlüsselloch und bewegte sie mit großer Fingerfertigkeit. Mindestens zehn, höchstens dreißig Sekunden brauchte er

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