Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
Fallende Trümmer hatten die Spitzen ihrer Flügel ruiniert, nun geriet die Göttin der Zeit ins Wanken.
Sie wird umkippen! , durchzuckte es Kriss. Aber da war es schon geschehen. Mit ohrenbetäubendem Krachen schlug die riesige Steinfigur zu Boden und zersprang in tausend Einzelteile. Steinsplitter flogen an Kriss’ Augen vorbei; sie hörte Alrik aufschreien, er geriet ins Straucheln. Nur mit Mühe konnte sie ihn davor bewahren zu stürzen. Von ihr gestützt rannte er weiter, wobei er all sein Gewicht auf das linke Bein verlagerte. Schmerz verzerrte sein Gesicht bei jedem Schritt.
Der Ausgang des Tempels erschien wie ein helles Licht am Ende eines nebeligen Tunnels.
Grabungshelfer und Archäologen gleichermaßen flohen Hals über Kopf in die Wüste. Kriss spürte Alriks tröstende Hand auf ihrer Schulter und etwas stach ihr in die Augen, als sie zusammen mit den anderen zusehen musste, wie der Tempel der Zeit eingehüllt von Staub in sich zusammenfiel und all seine Geheimnisse unter sich begrub.
Die Einladung
»Es war einmal, vor langer, langer Zeit, da entdeckten die Menschen das Ælon. Oder das Ælon entdeckte die Menschen, wie man es nimmt.«
Kriss erinnerte sich, als sei es gestern gewesen: Sie war gerade vier Jahre alt und saß auf dem Schoss ihrer Mutter in der Hausbibliothek. Draußen klatschte Regen gegen die Fenster, drinnen fiel Kaminlicht auf uralte Bücher und noch ältere Landkarten. Sie lauschte gebannt, während ihre Mutter ihr mit ihrer wunderbaren Altstimme von der faszinierendsten Epoche in der Geschichte der Menschheit erzählte.
»Woher es kam, weiß niemand. Plötzlich erfüllte es die Luft, so deutlich zu fühlen wie die Spannung vor einem Gewitter, doch unsichtbar. Nur nachts konnte man es sehen, wie glitzernder Staub, der von den Sternen regnete.
Und ein neues Zeitalter begann. Ein Zeitalter wie keines zuvor.
Flüchtig wie Nebel durchdrang das Ælon Stein und Metall. Doch bald lernten die Menschen, dass man seine Energie allein durch die Kraft der Gedanken festhalten konnte und wie magische Fäden weben. Kristalle, wenn sie rein genug waren, konnten es sogar über Jahrtausende hinweg speichern. Es dauerte lange Jahre, diese Kunst zu lernen. Und ein halbes Leben, das Ælon richtig zu wirken.
Aber es verlieh den Menschen Macht über die Welt. Allein durch ihren Willen konnten sie Maschinen scheinbares Leben einhauchen, Paläste in die Luft erheben und andere Wunder vollbringen.
Doch nicht nur Wunder.
Denn auch wenn das Ælon die Welt verändert hatte, die Herzen der Menschen ließ es unberührt. Und so missbrauchten sie das Geschenk, das ihnen zuteil geworden war, und benutzen es, um mit seiner Hilfe neue Waffen zu schmieden. Schreckliche Waffen, stahlgewordene Alpträume; Maschinen, die ganze Städte vernichten konnten.
Blutige Kriege entbrannten. Kriege, die wir uns heute kaum noch vorstellen können. Ganze Völker starben in Flammen.
Doch genauso schnell wie es kam, versiegte das Ælon wieder. Die Maschinen wurden wieder zu leblosen Hüllen, Kunstwerke vergingen.
Aber nicht alle. Einige davon gibt es noch immer, manche verborgen in uralten Gewölben und geheimen Katakomben. Und Menschen wie Alrik und ich, wir suchen nach ihnen.«
»Und ich auch!«, rief Kriss begeistert aus. »Wenn ich groß bin!«
Ihre Mutter lächelte und küsste sie auf die Stirn. »Du auch«, sagte sie. »Wir drei. Zusammen.«
Kriss versuchte, nicht zu seufzen. Sie versuchte es wirklich.
Man würde sich umgehend um sie kümmern, hatte man ihnen gesagt. Das war heute Morgen gewesen. Nun schien es eine Ewigkeit her zu sein, dass die Glocken der Weißen Kathedrale zur Mittagsandacht geläutet hatten, und noch immer mussten sie warten.
Wie ein Säbelzahnwolf in seinem Käfig marschierte sie in dem weißgetünchten Salon auf und ab, während eine Standuhr aus Honigholz nervenzerreißend vor sich hin tickte.
Alrik saß auf einer Couch neben dem Fenster. Seine Krücken hatte er an die Wand gelehnt, sein gegipstes rechtes Bein ruhte auf einem Stuhl. »Beruhig dich, Mädchen«, brummte er. »Und setz dich endlich hin. Du machst mich ganz verrückt.«
Acht Tage waren seit ihrer Rückkehr nach Miloria und seiner Hauptstadt Tamalea vergangen, trotzdem fand Kriss es immer noch seltsam, Alrik wieder in Wams, Pluderhose und Stulpenstiefeln zu sehen, anstatt in der einfachen, aber bequemen Leinenkleidung, die er in Ka-Scha-Raad getragen hatte. Noch mehr Schwierigkeiten allerdings hatte sie, sich daran zu
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