Der Schatz des Dschingis Khan
umdrehte.
»Meine … Hausaufgaben für Latein«, log sie, weil ihr gerade nichts Besseres einfiel. »Wenn ich die nicht habe, muss ich die Vokabeln von Lektion vierzehn zwei Mal abschreiben. Die Büchner kennt da echt keinen Spaß.« Wenigstens das war nicht gelogen.
»He, was macht ihr da? Beeilt euch!« Allmählich wurde Nadine ungeduldig. »Wir kommen noch zu spät«, rief sie den beiden Schwestern entgegen.
Muriel antwortete nicht. »Pass auf, du fährst jetzt mit Nadine zur Schule«, sagte sie in einem Tonfall zu Vivien, der keinen Widerspruch duldete, und schwang sich dabei schon wieder auf ihr Mountainbike. »Sag ihr, sie soll mich in Physik entschuldigen. Ich komme etwas später.«
»Warum sagst du es ihr nicht selbst?«, wollte Vivien wissen, aber Muriel war schon auf dem Heimweg. »Keine Zeit!«, rief sie ihrer Schwester noch zu und sauste den holprigen Weg so schnell entlang, als gäbe es keinen Schnee und keine vereisten Pfützen.
Keine zehn Minuten später erreichte sie den Birkenhof. Jetzt galt die höchste Alarmstufe. Wenn Teresa mitbekam, dass sie nicht zur Schule gefahren war, konnte sie den Kinobesuch mit Nadine am Nachmittag vergessen. Ein Glück nur, dass es Titus draußen zu kalt war. Der große Schweizer Sennenhund hätte sie schon von Weitem erkannt und mit seinem freudigen Gebell verraten. Der faule Kerl war bei dem Wetter allerdings keine Gefahr. Schon seit Wochen war er nur mit sanfter Gewalt dazu zu bewegen, eine Pfote vor die Tür zu setzen. Offenbar hatte er sich vorgenommen, den Winter auf seinem warmen Lieblingsplatz in der Küche zu verbringen und Teresa bei der Arbeit zu beobachten. Immer darauf wartend, dass ein Leckerli für ihn abfiel. Teresa behauptete, der Hund würde ihr inzwischen schlimmer auf die Nerven gehen als der Schnupfen, den sie sich vor ein paar Tagen eingefangen hatte – aber niemand nahm das wirklich ernst, denn wie alle in der Familie hatte auch sie den eigensinnigen Hofhund in ihr Herz geschlossen.
Statt auf den Hof fuhr Muriel ein Stück in den nahen Wald hinein und lehnte ihr Fahrrad dort an einen Baum. Das Gefühl höchster Not war inzwischen so stark, dass es ihr fast den Atem nahm. Am liebsten wäre sie gerannt, aber dafür war es auf dem verschneiten Boden zu rutschig. So eilte sie in etwas seltsam anmutenden Bewegungen halb rennend, halb gehend den Weg entlang, der zu dem weiß gestrichenen Tor der Pferdekoppel führte, das sie mit Ascalon schon so oft heimlich übersprungen hatte. Ein Sprung, der sie jedes Mal in die wunderseltsame Welt der Schicksalsgöttin geführt hatte. Diese war die letzte Vertreterin der einst so mächtigen Götter, die die Völker der Erde viele tausend Jahre unter verschiedenen Namen verehrt hatten. Die Götter waren verschwunden – wohin, das wusste auch Muriel nicht –, nur die Schicksalsgöttin war geblieben, um ihre Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit wiedergutzumachen.
Muriel kannte die Göttin inzwischen sehr gut. Ein paar Mal schon waren Ascalon und sie von ihr in die Vergangenheit geschickt worden, um dort einen Auftrag auszuführen. Der letzte Ausritt hatte sie an den Hof von König Artus geführt. Davor hatte sie am Leben der Maya vor tausend Jahren teilhaben dürfen und einen Blick in die Zeit der Hexenverfolgung hatte sie auch schon werfen können.
Wenn sie daran zurückdachte, wurde ihr ganz warm ums Herz. Schon immer hatte sie sich gewünscht, spannende Abenteuer zu erleben. Mit Ascalon wurde dieser Traum endlich wahr.
An diesem Morgen kletterte sie von der anderen Seite über das Tor ohne jede Magie und ohne Ascalons Hilfe. Dahinter lag die Wiese, die an den Stall grenzte, in dem neben den Pferden des Birkenhofs hin und wieder auch die Patienten ihrer Mutter und ein paar Gastpferde, wie Nadines Fanny, untergebracht waren. Im Stall war es angenehm warm, aber die Pferde sollten auch im Winter ihren Auslauf haben und so hatte Muriel das Stalltor nach dem Frühstück geöffnet und die Tiere auf die Weide hinausgelassen.
Zusammen mit Ascalon und dem betagten Nero, der von Vivien geritten wurde, gab es auf dem Birkenhof in diesem Winter elf Pferde. Sechs waren wie Nero alt oder durch eine Verletzung behindert und bekamen hier ihr Gnadenbrot. Vier Pferde gehörten anderen Besitzern. Einen Dauerpatienten beherbergte ihre Mutter, die sich als Tierärztin und Tierpsychologin auf die Arbeit mit Pferden spezialisiert hatte, zurzeit nicht.
Muriel lief über die Wiese und schaute sich um. Die große Raufe
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