Der Schatz von Blackhope Hall
Gesicht noch dünner wirken ließ. Mit dunkelblondem Haar und haselnussbraunen Augen, sah er eher nichts sagend aus, weder hübsch noch hässlich. Zu diesem Eindruck passte seine tonlose Stimme. Solche Männer pflegte man zu ignorieren oder zu vergessen, kurz nachdem man sie getroffen hatte. Vielleicht strebte Mr. Babington das sogar an.
"Welch eine Ehre", murmelte er, umschloss Olivias Hand mit schlaffen Fingern und ließ sie sofort wieder los.
"Sicher sind Sie müde nach der langen Fahrt, Lady Olivia", meinte Lady St. Leger liebenswürdig. "Ich nehme an, jetzt möchten Sie Ihr Zimmer aufsuchen."
"Ja, vielen Dank, Madam", antwortete Olivia erleichtert.
"Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer", bot Belinda an und führte sie aus dem Salon, die Galerie entlang und in einen anderen Korridor. Freundschaftlich hängte sie sich bei Olivia ein. "Ich hoffe, unsere Neugier hat Sie nicht beleidigt. Wissen Sie, Stephen hat zum ersten Mal eine Frau in dieses Haus eingeladen. Nun, ich meine – seit er wieder hier ist."
Heiße Röte färbte Olivias Wangen. "Oh nein, Sie dürfen nicht denken … Ihr Bruder und ich sind nur Freunde. Davon abgesehen, interessiere ich ihn nicht."
Schuldbewusst dachte sie an den wahren Grund ihres Aufenthalts in Blackhope, den sie den St.-Leger-Damen verheimlichte. Doch den konnte sie ihnen nicht verraten, ebenso wenig wie ihrer Familie. Sonst wäre Lady St. Leger entsetzt und zutiefst gekränkt.
"Natürlich hat Stephen den Landsitz seit seiner Heimkehr kaum verlassen. Er behauptet, hier gäbe es viel zu tun und er müsse sich gründlich über die Belange der Ländereien informieren." Seufzend schnitt Belinda eine Grimasse. "Ich glaube, er fühlt sich nicht wohl in Blackhope. Immerhin war er fast zehn Jahre in Amerika. Aber das wissen Sie sicher, Lady Olivia. Wie haben Sie ihn kennen gelernt? Was das betrifft, haben wir die wildesten Spekulationen angestellt. Er muss Ihnen begegnet sein, als er nach London kam, um uns abzuholen. Andererseits bezweifle ich, dass er irgendwelche Partys besuchte. Er hat sich jedenfalls stets geweigert, Mama, Pamela und mich auf gesellschaftliche Veranstaltungen zu begleiten. Wie romantisch muss es gewesen sein, als Sie ihn zum ersten Mal sahen …"
"Keineswegs – wie gesagt, wir sind nur Freunde", erwiderte Olivia unbehaglich. "Ich lernte Lord St. Leger durch meinen Bruder Reed kennen. Den suchte er eines Tages auf, und ich war zufällig da."
Bei der nächsten Gelegenheit würde sie Stephen in diese Lügengeschichte einweihen müssen. Hätten sie bloß vorher gemeinsam überlegt, wie sie ihre Bekanntschaft erklären sollten … Natürlich war seine Familie neugierig und würde sich nicht so leicht wie ihre hinters Licht führen lassen. Welch ein Vorteil, wenn man liberal gesinnte Verwandte hatte!
"Also war es eher prosaisch als romantisch", fuhr sie fort. "Lord St. Leger lud uns beide ein. Leider hatte Reed keine Zeit."
Belinda schaute sie prüfend an, und Olivia fürchtete, sie habe ihr jene peinliche Vermutung nicht restlos ausgeredet. Aber dann zuckte das Mädchen die Achseln. "Wenigstens haben Sie Pamela geärgert."
"Was meinen Sie?" fragte Olivia erschrocken.
"Nun – sie ist nur eine Countess, und Sie sind die Tochter eines Duke."
Trotz Belindas argloser Miene gewann Olivia den Eindruck, dass das Mädchen an etwas anderes gedacht hatte. Aber danach konnte sie nicht fragen, und so lächelte sie schweigend.
Belinda blieb vor einer offenen Tür stehen. "Hier ist Ihr Zimmer, Lady Olivia."
"Bitte – ich mag keine Adelstitel", protestierte Olivia. "Nennen Sie mich Miss Moreland."
"Wenn ich so unhöflich wäre, würde Mama mir das niemals verzeihen."
"Dann sagen Sie einfach Olivia zu mir."
Verblüfft riss das Mädchen die Augen auf. "Wollen Sie das wirklich?"
"Ja, sicher. Um die Wahrheit zu gestehen, ich fühle mich nicht wie die Tochter eines Duke."
Da strahlte Belinda über das ganze Gesicht. "Sie sind kein bisschen dünkelhaft. Oh, ich wusste es – ich würde Sie mögen. Das spürte ich!"
"Dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit", versicherte Olivia und lachte leise. In der Tat, es würde ihr schwer fallen, dieses nette, warmherzige Mädchen nicht zu mögen.
Vor lauter Freude lächelte Belinda noch sonniger, falls das überhaupt möglich war, und umarmte sie. "Hoffentlich gefällt Ihnen das Zimmer. Wenn nicht, wird Mama Sie woanders unterbringen."
"O nein, es ist wunderschön." Entzückt guckte sich Olivia in dem großen, elegant
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