Der Schatz von Blackhope Hall
eines aus dunkler goldener Seide, beide so schön, dass Olivia sich nicht vorzustellen vermochte, sie jemals anzuziehen. Von solchen Bedenken unbehelligt, streifte ihr die Zofe erst das eine, dann das andere Kleid über den Kopf, zupfte daran herum und steckte Säume ab.
Da Olivia kleiner war als ihre Schwester, mussten die Roben ihrer Figur angepasst werden. Joan sei überaus tüchtig, versicherte Kyria, und sie würde die Kleider rechtzeitig ändern. "Oder sie erledigt die restliche Arbeit in Blackhope", fügte sie beiläufig hinzu.
"Was soll das heißen?" rief Olivia entgeistert. "Joan wird mich nicht begleiten."
"Doch, natürlich. Jemand muss dich frisieren. Und da du keine eigene Zofe hast, ist das die perfekte Lösung des Problems."
"Aber ich benötige keine Zofe. Deshalb habe ich keine. Ich kann mich selbst frisieren und alle meine Kleider ohne fremde Hilfe anziehen, weil sie entsprechend geschnitten sind."
"Gewiss, du bist unabhängig und sehr selbstständig. Trotzdem darfst du nicht ohne Dienstmädchen auf einer Hausparty erscheinen. Was würde Lady St. Leger denken?"
"Nun, vielleicht findet sie mich vernünftig. Niemand braucht eine Zofe für sich allein. Am allerwenigsten ich ."
"Ja, ja, ich kenne deine Meinung über dieses Thema … Mach nur eine einzige Ausnahme. Mir zuliebe!" Einschmeichelnd lächelte Kyria ihre Schwester an. "Und überleg mal, wie Joan sich über die Reise freuen würde. Nicht wahr, Joan?"
Sichtlich erstaunt, stimmte das Mädchen zu. "Oh ja, Mylady."
Olivia seufzte. Nach einem weiteren halbherzigen Protest gab sie sich geschlagen. Zweifellos war eine Zofe überflüssig, und sie wollte nicht schöner erscheinen, als sie war. Andererseits stellte sie sich unwillkürlich und mit gewisser Freude vor, wie sie in den bezaubernden Kleidern ihrer Schwester aussehen würde – und was Lord St. Leger davon halten mochte.
Eine Woche später brach sie nach Blackhope auf. In ihren Koffern lagen Kyrias traumhafte Kleider und einige ihrer eigenen, die inzwischen modisch verändert worden waren. Die Zofe und Tom, offiziell ein zweiter Dienstbote, traten mit ihr die Bahnfahrt an. Natürlich war es alberne Eitelkeit. Das wusste sie. Trotzdem bewunderte sie den neuen Kragen ihres schlichten, praktischen braunen Reisekostüms, der ihren Hals schmeichelnd umrahmte, und die goldenen Borten an den Schultern. An diesem Morgen hatte Joan darauf bestanden, sie zu frisieren, und den gewohnten Nackenknoten beibehalten, aber nicht so straff festgesteckt, und ein paar Löckchen umspielten das Gesicht. Seltsam, hatte Olivia vor dem Spiegel gedacht, eigentlich sehe ich so aus wie immer und doch viel hübscher. Die erwartungsvolle Freude, die ihre Wangen rötete, und der Glanz in ihren Augen waren ihr nicht aufgefallen.
Am Bahnhof wurde die kleine Reisegruppe von der _St.-Leger-Kutsche erwartet. Tom half dem Fahrer das Gepäck im Wagen zu verstauen. Dann stieg er zu ihm auf den Kutschbock, während die beiden Frauen in der bequemen Plüschpolsterung des gut gefederten Landauers Platz nahmen. Sobald er rhythmisch schwankte, schlief Joan ein. Aber Olivia war viel zu angespannt und aufgeregt, um sich auszuruhen. Sie zog den Vorhang am Fenster beiseite, betrachtete die Landschaft und fieberte dem Moment entgegen, wo Blackhope auftauchen würde.
Schließlich entdeckte sie das Gebäude, das im Licht des Sonnenuntergangs golden glühte – eine starke normannische Festung mit Zinnen. Hinter den Wällen ragte ein runder Turm empor, die Mauer von Schießscharten in der traditionellen Kreuzform durchbrochen. Olivias Atem stockte. In ihrem Herzen entstand ein sonderbares, fast überwältigendes Gefühl.
Für ein paar Sekunden schimmerte das Bild vor ihren Augen. Und als sie blinzelte, verschwand es.
Verwirrt starrte sie aus dem Fenster, und ihr Puls beschleunigte sich. Das Haus auf dem Hügel war kein altes Schloss, zur Abwehr angriffslustiger Feinde errichtet, sondern ein weitläufiges steinernes Bauwerk auf verschiedenen Ebenen, offenbar durch diverse Anbauten vergrößert. Jener seltsamen Vision glich nur der helle Stein, von sterbenden Sonnenstrahlen beleuchtet.
Unfähig, ihren Augen zu trauen, beugte sie sich vor. Ein paar Mal hob und senkte sie die Lider. Doch sie sah keine alte Festung, das Anwesen änderte sich nicht. Die Hände im Schoß ineinander geschlungen, lehnte sie sich zurück. Ein Glück, dass Kyrias Zofe immer noch döste und die zweifellos sichtbare Bestürzung ihrer neuen Herrin nicht
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