Der Schatz von Blackhope Hall
Blutes in ihren Adern gespürt, die beschleunigten Atemzüge gehört, die Sehnsucht ihres Herzens wahrgenommen, ihre Gedanken ergründet.
Und da sie ihn so heiß begehrt hatte, schämte sie sich zutiefst. Hielt er sie für leichtfertig und töricht? So oft sie sich auch sagte, er könne ihren Traum unmöglich miterlebt haben, schreckte sie vor einem Wiedersehen zurück. Es wäre unhöflich gewesen, am Dinner nicht teilzunehmen, ohne eine Krankheit vorzutäuschen, und das widerstrebte ihr. Zum Glück ergab sich an der Tafel keine Gelegenheit für ein vertrauliches Gespräch. Aber als sie nach der Mahlzeit das Speisezimmer verließ, folgte er ihr. "Olivia …"
Sie schaute ihn nur kurz an, und seine gerunzelte Stirn jagte ihr Angst ein. "Äh – du musst mich entschuldigen, ich habe Kopfschmerzen und möchte mich zurückziehen."
"Hör mir zu …"
"Tut mir Leid." Sie lächelte kühl, immer noch unfähig, seinen Blick zu erwidern. "Wirklich. Ein andermal …" Hastig wandte sie sich ab, eilte davon, und er hätte ihren Arm umklammern müssen, um sie festzuhalten – worauf er höflichkeitshalber verzichtete.
Beinahe hatte sie ihr Zimmer erreicht, als Schritte hinter ihr erklangen.
"Lady Olivia?"
Verwundert erkannte sie Pamelas Stimme und drehte sich um. Rodericks Witwe hatte nur selten mit ihr gesprochen, von jenen beleidigenden Kommentaren über die Morelands einmal abgesehen. Nun erhellte ein Lächeln das Porzellanpuppengesicht.
"Fühlen Sie sich tatsächlich unwohl?" Anmutig schlenderte sie zu Olivia und setzte eine sorgenvolle Miene auf.
"Nur leichte Kopfschmerzen."
"Also nichts Schlimmes, das freut mich. Vorhin sah ich Stephen mit Ihnen reden …" Pamela zögerte, ehe sie fortfuhr. "Bitte glauben Sie nicht, ich würde mich in Dinge einmischen, die mich nichts angehen. Aber mir fiel schon den ganzen Tag auf, dass sie seine Gesellschaft meiden."
"Oh nein", protestierte Olivia errötend. "Ich war nur … äh …"
"Ach, schon gut." Pamela lachte leise. "Außer mir hat es sicher niemand bemerkt. Was das betrifft, verfüge ich über gewisse Erfahrungen."
"Wie bitte?" fragte Olivia verständnislos.
"Ich kenne Stephen seit langer Zeit, und ich habe ihn mehrmals in ähnlichen Situationen erlebt. Ein schrecklicher Schürzenjäger! Zweifellos sehr charmant. Aber es ist gefährlich, seine Annäherungsversuche ernst zu nehmen."
Jetzt färbten sich Olivias Wangen noch dunkler. "So etwas dürfen Sie auf keinen Fall denken. Sicher hat Lord St. Leger nicht mit mir geflirtet."
Pamela warf ihr einen wissenden Blick zu. "Schlagen Sie meine Warnung nicht in den Wind. Oft genug hat er mit den Gefühlen junger Damen gespielt."
Erschrocken hielt Olivia den Atem an. Wie sie sich eingestehen musste, wusste sie nicht viel über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Doch sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Stephen die Naivität junger Mädchen skrupellos ausnutzte. Und warum sorgt sich seine Schwägerin plötzlich um mein Seelenleben? fragte sie sich.
Pamela schien die Skepsis in Olivias Augen zu lesen, denn sie fügte hinzu: "Ehrlich gesagt, ich spreche aus persönlicher Erfahrung. Vor vielen Jahren, bevor ich Roderick kennen lernte, verliebte ich mich in Stephen, und er brach mir das Herz. Er ließ mich im Stich und segelte nach Amerika. Glücklicherweise hat Roderick mich getröstet. Vielleicht müsste ich Stephen dankbar sein. Hätte er mich nicht schmerzlich verletzt, wäre sein Bruder wohl kaum bestrebt gewesen, mich für dieses Leid zu entschädigen."
"Was?" Dass Stephen sich so grausam verhalten hatte, wollte Olivia nicht glauben.
Irritiert zog Pamela die Brauen zusammen. "Es ist die reine Wahrheit. Warum sollte ich etwas erfinden, das kein allzu gutes Licht auf mich wirft?"
"Oh, ich möchte keineswegs andeuten …", begann Olivia und verstummte unsicher.
"Ich dachte nur, es wäre meine Pflicht, Sie zu warnen", betonte Pamela und kehrte zur Treppe zurück.
Seufzend betrat Olivia ihr Zimmer, den Tränen nahe. Hatte sie sich in Stephen getäuscht? War er wirklich ein gefühlloser, unverbesserlicher Verführer?
Sie nahm nicht an, er habe mit ihr geflirtet. Andererseits – jener Kuss … Aber vom Flirten verstand sie nichts. Und sie gab Pamela Recht. Warum sollte die Lady behaupten, sie sei sitzen gelassen worden? So etwas Peinliches äußerte man nicht, wenn es eine Lüge war. Außerdem hatte Olivia gemerkt, wie kühl der Earl und seine Schwägerin einander begegneten, und Pamelas Geständnis
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