Der Schatz von Blackhope Hall
weil ich mich nicht Lady Olivia nennen lasse, sondern Miss Moreland. Meine Mutter ist verrückt, weil sie glaubt, alle Kinder würden eine gute Ausbildung verdienen. Und Kyria, weil sie sich weigert zu heiraten und die Anträge der vornehmsten Aristokraten zurückweist."
Die Wangen erhitzt, erwärmte sich Olivia für ihr Thema, und Stephen konnte seinen Blick kaum noch von ihr abwenden.
"Warum sind wir merkwürdig?" fragte sie. "Mir kommen andere Leute viel eigenartiger vor. Wieso ist es falsch, sich für Dinge einzusetzen, die einem am Herzen liegen?"
"Wie leidenschaftlich Sie sind …"
Seine Worte schienen zwischen ihnen in der Luft zu hängen. Plötzlich entstand eine spürbare Spannung. Olivia, eben noch von ihrer Empörung mitgerissen, verstummte beklommen. Jetzt konnte sie nur noch an die ursprüngliche, fleischliche Bedeutung des Begriffs "Leidenschaft" denken. Die Finger fester um die Zügel geklammert, sah sie verwirrende Bilder vor ihrem geistigen Auge – Stephens Hand auf ihrer, seine Silberaugen, die immer wieder so fremdartige, heiße Gefühle in ihr entfachten …
Endlich gehorchte ihr die Stimme wieder, und sie konnte sogar in ruhigem Ton sprechen. "Ja, wir sind leidenschaftlich, wenn wir unsere Interessen verfolgen", bestätigte sie und wich seinem Blick aus. "Tut mir Leid, Sie müssen mich töricht finden, wenn ich mich wegen einer belanglosen Platitüde so aufrege."
"Keineswegs", beteuerte er, und der sanfte Klang seiner Stimme bewog sie, ihn anzuschauen. Erstaunt las sie aufrichtige Bewunderung in seinem Lächeln. "Meiner Meinung nach sind Sie eine sehr bemerkenswerte junge Dame."
Olivia senkte verlegen den Kopf. In solchen Situationen fühlte sie sich völlig hilflos. Kyria würde das Kompliment charmant entgegennehmen, doch sie selbst konnte nur erröten und sich wie eine dumme Gans aufführen.
Zum Glück trat eine Frau aus der Tür des Cottages, an dem sie gerade vorbeiritten, und begrüßte Stephen. Nachdem er Olivia mit der Ehefrau seines Pächters bekannt gemacht und das schöne Augustwetter gepriesen hatte, war der peinliche Moment überstanden. In einvernehmlichem Schweigen setzten sie ihren Weg fort.
Dann begann Stephen wieder zu sprechen. "Jetzt zeige ich Ihnen mein Lieblingsplätzchen", kündigte er an und lenkte sein Pferd in einen Seitenpfad. "Dort werden wir den Lunch genießen, den uns die Köchin mitgegeben hat. Diese Stelle eignet sich gerade ideal dazu."
Am Ende eines Feldes öffnete er ein Gatter, und sie ritten hindurch. Olivia wusste seine Rücksichtnahme zu schätzen. Wäre er allein, würde er sicher über den Zaun hinwegspringen, dachte sie. Dafür hätten ihre Reitkünste wohl kaum gereicht. Nur zu gut erinnerte sie sich an den besorgten Reitknecht, der ihr erklärt hatte, sie müsse ihrem Pferd helfen, Hindernisse zu überwinden, statt es zu bekämpfen. So dankbar war sie gewesen, als ihr Vater entgegnet hatte: "Was soll's, Jenkins? Geben Sie lieber Kyria und den Jungs Unterricht. Meine Livvy ist eine Gelehrte, keine Reiterin. Nicht wahr, meine Süße?"
Zwischen den Bäumen hinter dem Zaun folgten sie einem kaum sichtbaren Weg und erreichten eine kleine Wiese, die sanft zu einem Teich hin abfiel. Hohe Büsche säumten einen Teil des Ufers. Entzückt betrachtete Olivia die malerische Szenerie.
"Wie schön!" rief sie und zügelte ihre Stute, von einem unerklärlichen, intensiven Gefühl erfasst. Aus irgendwelchen Gründen, die sie nicht verstand, kannte sie dieses Fleckchen Erde.
"Gefällt es Ihnen hier?" Lächelnd musterte Stephen ihr Gesicht, das von innen her zu leuchten schien. "Früher kam ich oft hierher, um nachzudenken oder nur dazusitzen."
"Oh, es ist wunderbar." Am Wasserrand stiegen sie ab, und sie sah sich begeistert um. "So friedlich, so sicher …"
Erstaunt verstummte sie. Warum sollte sie sich nicht sicher fühlen? Doch sie wusste, dass ein Gefühl der Sicherheit zu dem sonderbaren Eindruck gehörte, den sie beim Anblick des Teichs gewonnen hatte. Plötzlich wurde jene beglückende Emotion von einem vagen Unbehagen abgelöst, das sie entschlossen bekämpfte. Wie albern … Dies war einfach nur ein idyllisches Plätzchen. Und was immer sie empfunden hatte, musste die normale Freude an einer reizvollen Umgebung sein.
Stephen band einen Korb von seinem Sattelgurt los und stellte ihn ans Ufer. Dann breitete er eine Decke aus, und sie setzten sich. Die Köchin hatte kalten Braten, Käse, Obst und dunkle, mit hellgelber Butter bestrichene
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