Der Schatz von Franchard
Seine liebe Herrin würde sich aufgeputzt in den Salons bewegen; sein guter, geschwätziger, warmherziger Herr ein zänkischer Deputierter werden; und beide würden für immer Jean-Marie und ihrem besseren Ich verloren gehen. Er wußte, daß er im Trubel einer Stadt zu immer geringerer Bedeutung, unablässig vom Kind zum Dienstboten herabsinken mußte. Und undeutlich begann er die bösen Prophezeiungen des Doktors zu glauben. Er konnte in beiden bereits eine Veränderung wahrnehmen. Dies eine Mal versagte sein edelmütiges Nichtglaubenkönnen; selbst ein Kind mußte erkennen, daß der Hermitage vollendet hatte, was mit dem Absinth den Anfang genommen. War dies der erste Tag, wie würde dann erst der letzte sein? »Wenn nötig,bring den Zug zum Entgleisen,« murmelte er, eingedenk der Parabel des Doktors. Er ließ seine Blicke über das entzückende Bild schweifen und sog die von Heuduft schwangere, zauberhafte Nachtluft in tiefen Zügen ein. »Wenn nötig, bring den Zug zum Entgleisen,« wiederholte er. Und er erhob sich und kehrte ins Haus zurück.
Sechstes Kapitel: Eine Kriminaluntersuchung in zwei Teilen
Am nächsten Morgen herrschte ein ungewöhnlicher Aufruhr im Doktorhause. Als letztes vor dem Schlafengehen hatte der Doktor die Wertsachen in den Schrank im Speisezimmer geschlossen, und siehe da, als er aufstand, was etwa um vier Uhr geschah, waren der Schrank erbrochen und die betreffenden Wertsachen verschwunden. Madame und Jean-Marie wurden aus ihren Zimmern gerufen und erschienen in oberflächlicher Toilette. Sie fanden den Doktor tobend vor. Er rief den Himmel zum Zeugen und zur Rache auf und rannte barfuß im Zimmer auf und ab, wobei die Zipfel seines Nachthemds bei jeder Wendung flatterten.
»Fort!« schrie er, »die Sachen sind fort, das Vermögen ist hin. Wir sind wieder bettelarm geworden. Junge, was weißt du hiervon? Heraus mit der Sprache, heraus damit. Weißt du irgend etwas? Wo sind sie?« Er packte ihn beim Arm und schüttelte ihn wie einen Sack; des Knaben Worte kamen, wenn überhaupt,ruckweise in undeutlichem Gemurmel hervor. In plötzlichem Rückschlag von seiner Heftigkeit ließ der Doktor ihn wieder fahren. Er sah, daß Anastasie in Tränen war. »Anastasie,« meinte er mit gänzlich veränderter Stimme, »beruhige dich, beherrsche deine Gefühle. Ich möchte nicht, daß du dich pöbelgleich dem Affekte überläßt. Dies – dies nebensächliche Ereignis muß überwunden werden. Jean-Marie, bring mir meinen kleineren Medizinkasten. Ein mildes Laxativ ist hier angebracht.«
Und er gab der ganzen Familie ein, wobei er selbst mit einer doppelten Dosis voranging. Die unglückliche Anastasie, die in ihrem ganzen Leben nicht krank gewesen war und alle Medikamente aus tiefster Seele verabscheute, vergoß Ströme von Tränen, während sie nippte, sich ekelte und protestierte, worauf sie tyrannisiert und angeschrien wurde, bis sie abermals nippte. Was Jean-Marie anbetraf, so schluckte er seine Portion stoisch herunter.
»Ich habe ihm ein geringeres Quantum gegeben,« bemerkte der Doktor, »seine Jugend schützt ihn vor Emotionen. Und jetzt, da wir etwaigen krankhaften Folgen vorgebeugt haben, wollen wir uns die Sache überlegen.«
»Mir ist so kalt,« jammerte Anastasie.
»Kalt!« rief der Doktor. »Gott sei Dank, daß ich aus feurigerem Stoffe bin. Ich bitte Sie, Madame, ein Schlag wie dieser müßte selbst einen Frosch schwitzen machen. Ist Ihnen kalt, so können Sie sich ja zurückziehen; nebenbei könntest du mir meine Hosen herunterwerfen. Es ist etwas kühl für die Beine.«
»O nein!« protestierte Anastasie. »Ich bleibe bei dir.«
»Nein, Madame, Sie sollen durch Ihre Treue nicht zu leiden haben,« sagte der Doktor. »Ich werde Ihnen selbst einen Shawl holen.« Und er begab sich nach oben, von wo er vollständig angekleidet und mit einem Arm voll Mäntel für die zähneklappernde Anastasie zurückkehrte. »Und nun,« fuhr er fort, »wollen wir dies Verbrechen untersuchen. Laßt uns auf induktivem Wege vorgehen. Anastasie, weißt du etwas, was uns weiterbringt?« Anastasie wußte nichts. »Du etwa, Jean-Marie?«
»Ich auch nicht,« entgegnete mit Festigkeit der Junge.
»Gut,« erwiderte der Doktor. »Wir wenden unsere Aufmerksamkeit nunmehr den materiellen Beweisen zu. (Ich bin der geborene Detektiv; ich besitze sein Auge und seinen systematischen Geist.) Erstens, man hat hier Gewalt angewendet. Die Tür ist erbrochen worden; nebenbei ist zu bemerken, daß das Schloß unter diesen
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