Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
sie das auch nur. In einem flüchtigen Augenblick erkannte sie, was mit ihr geschah. Sie hatte nicht mehr lang, dann würde sie das Bewusstsein verlieren. Alles, was sie erlebte, war wie in Nebel gehüllt, sie konnte ihren eigenen Sinnen nicht mehr trauen.
»Das Geländer«, flüsterte sie heiser und sackte auf die Knie. »Dybbøl«, las sie noch auf einem Schild, bevor ihre Finger das kalte Metall zu fassen bekamen. Sie blickte sich um. »Lasst mich in Ruhe.«
Menschen waren zusammengelaufen. Entweder waren das wirklich mehrere, oder er hatte sich aufgeteilt.
»Lasst mich in Ruhe!«, schrie sie.
Ein Zug fuhr unter ihr hindurch in den Bahnhof ein. Ja, dachte sie. Ich will auch weiter. Das Metall des Brückengeländers wirkte für ein paar Sekunden wie ein Gegengift auf die beklemmende Unwirklichkeit. Metall auf der Haut. Schwarz auf weiß.
»Rost«, sagte sie und kletterte wieder nach oben. Wann wohl ihr Zug kam? »Geht weg!«, schrie sie, als sich jemand näherte. War das der, vor dem sie geflohen war? Der Teufel. Egal. Gleich würde sie auf den Zug aufspringen. Den Zug in die Ewigkeit.
2.
Islands Brygge, 23.35 Uhr
Was ist Mord, und was wissen wir überhaupt über das Leben? Oder den Tod?, fragte Hannah Lund sich, als sie kurz vor Mitternacht draußen auf dem Balkon stand. Sie konnte nicht schlafen. Vorsichtig schloss sie die Balkontür. Sie wollte Niels nicht wecken. Obwohl er bestimmt längst wach war und sich denken konnte, was ihr fehlte. Niels bemerkte alles, all ihre kleinen Gemütsschwankungen, die winzigen Signale, die man in die Welt hinaussandte, ohne dies überhaupt selbst zu merken. Deshalb war er bei der Polizei der Spezialist für die Verhandlungen bei Geiselnahmen. Einer der Besten, wenn es darum ging, verzwei felten Menschen fürchterliche Taten auszureden. Und genau des halb war er auch für sie genau der Richtige, denn auch sie war ein verzweifelter Mensch.
Farbige Lampen, rot und grün, spiegelten sich auf dem schwarzen Wasser. Sie hingen drüben auf der anderen Seite des Hafens. Warum nur rote und grüne?, fragte Hannah sich und zündete sich eine weitere Zigarette an. Sie sollte sich in ihr Kajak setzen und durch die Nacht paddeln – hinüber auf die andere Seite. Mitfeiern.
Das wichtigste Mittel gegen Schlaflosigkeit und all die dummen unbeantworteten Fragen, die sich einem stellen, wenn der Körper sich zu schlafen weigerte, war das Durchbrechen der festgefahrenen Muster. Es war wesentlich, die dunklen Stunden nicht als Gegner anzusehen, nicht der Feind des Schlafs zu werden. Man musste etwas Vernünftiges tun. Sie hatte gelesen, dass man seine Sorgen mental bearbeiten sollte. Okay. Meine Sorgen, dachte sie und hoffte darauf, sie an einer Hand abzählen zu können: Erstens, ich bin schwanger, habe meinem Mann davon aber nichts gesagt, weil ich abtreiben will. Den Fötus umbringen. Einen Mord begehen. Ich weiß nicht, ob ich in der Lage bin, ein normales Kind auf die Welt zu bringen. Das einzige, das ich jemals bekommen habe, war gestört, krank im Kopf, und hat schließlich Selbstmord begangen. Auf der einen Seite war dieses Kind gesegnet gewesen mit einer außergewöhnlichen Begabung, auf der anderen hatte diese außerordentliche Begabung aber auch wie ein Fluch auf ihm gelegen. Wie auf mir, dachte sie.
Hannahs Eltern hatten sich immer ihretwegen geschämt, als sie klein war, und versucht, aus ihr ein ganz normales Kind zu machen. »Jetzt tu doch nicht so klug«, hatte ihr Vater immer gesagt. Erst als sie als Jugendliche am Niels-Bohr-Institut angenommen worden war, hatte sie das Gefühl gehabt, ihren Platz in der Welt gefunden zu haben. Sie hatte sich zwischen all den anderen Ver rückten zu Hause gefühlt. Auch diesen Menschen entging manch mal, dass Essensreste an ihrem Mundwinkel klebten, sie das Hemd falsch zugeknöpft hatten oder sie zwei verschiedene Schuhe trugen. Andere Menschen konnten einfach nicht verstehen, wie die »normale« Welt so in den Hintergrund rücken konnte und einem nur noch Gleichungen, Lösungen und Zahlen durch den Kopf gingen, und das mit einer solchen Geschwindigkeit, dass man nicht merkte, dass man noch den Fahrradhelm trug, ob wohl man schon drei Stunden im Institut war.
War das ein Problem, oder waren das mehrere?, fragte sie sich selbst, als sie ihr Spiegelbild im Fenster betrachtete. Du bist die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe, sagte Niels immer, wenn er auf ihr lag und ihr in die Augen blickte. Sie sah an sich nichts Schönes. Nur
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