Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
dass sie oft gesehen hatte, wie ihr Vater, Adam Bergmann, den sie vergöt terte, Hühnern den Hals durchtrennt hatte. Vielleicht war sie den Tod gewohnt. Vielleicht war er für sie etwas … Alltägliches. Ein einfacher Schnitt. Da steht ein kleines Mädchen mit einer Masse von Gefühlen, die es nicht versteht. Und sie weiß, dass man einfach einen Schnitt machen muss, damit das Huhn tot ist. Und dass das niemandem leidtut. Das Huhn zuckt noch herum, vielleicht flattert es ein paar Meter. Und dann isst man es. Wer weiß? Es braucht schon einen Erwachsenen, um die Rangordnung zu verstehen, mit der wir die unterschiedlichen Morde einteilen. Abtreibung, Vergehen an Tieren, Mord, Krieg. Was ist was? Vielleicht war es deshalb – genau deshalb – gar nicht so schwer für das Mädchen, das Messer an die zarte Halsschlagader ihrer schlafenden Mutter zu legen.
Sie musste nicht mal fest zudrücken. Das Messer war schwer und scharf und machte die Arbeit fast von selbst. Vielleicht wachte die Mutter auf? Vielleicht rannte sie sogar wirklich noch im Haus herum, bis sie irgendwann an dem Blutverlust starb? Oder was glauben Sie, Bentzon? War es so etwas, das Sie gesehen haben? Drüben, auf der anderen Seite?«
Niels spürte ein schwaches Zittern in seiner Hand. Als hielte er das Messer in den Fingern. Als würden wir all unsere Taten gemeinsam begehen.
»Wer sagt denn, dass ich etwas gesehen habe?«
»Bergmann. Er hat es in Ihrem Blick gesehen.«
Niels wollte dem Alten gerne helfen. Ihm Frieden geben. Er räusperte sich: »Lassen Sie uns für einen Augenblick mit dem Gedanken spielen, dass es da auf der anderen Seite tatsächlich etwas gibt.«
»Ja.«
»Das würde bedeuten, dass es einen Sinn gibt. Für alles. Einverstanden?«
»Hm, ja.«
»Dann gibt es vermutlich auch einen Grund dafür, warum das Leben derart wasserdicht abgeriegelt ist. Dass wir uns auf der Erde um das Leben hier auf Erden kümmern sollen. Und nicht so viel darüber reden, was uns drüben erwartet.«
Es wurde still zwischen den beiden.
Irgendwann war ein Zug zu hören. Der Alte lächelte. Stand auf und nahm seine helle Windjacke vom Stuhl. Er gab Niels die Hand.
»Aber vielleicht ist Ihre Theorie gar nicht so verkehrt«, sagte Niels und hielt seine Hand eine Weile fest. »Das würde ja auch erklären, warum sie aufgehört hat zu sprechen.«
Der Alte sah Niels in die Augen.
»Um den Mörder nicht zu entlarven«, sagte Niels.
Der Zug hielt.
EINEN MONAT SPÄTER
43.
Bispebjerg-Klinik – Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, 09.50 Uhr
In einer halben Stunde wartete Hannah mit den Koffern vor dem Thorvaldsen-Museum. Genau wie er es von ihr gewünscht hatte. Aber vorher musste er noch etwas hinter sich bringen. Die Nachricht für Silke. Von ihrer Mutter. Es war an der Zeit, sie ihr zu überbringen.
»Entschuldigung. Ich suche nach Silke Bergmann«, sagte Niels zu einem Mann in einem weißen Kittel. »Wissen Sie, ob sie in ihrem Zimmer ist?«
»Worum geht es denn?«, fragte der Mann.
»Nur ein kurzer Besuch«, sagte Niels und zeigte ihm seinen Polizeiausweis.
»Silke ist immer in ihrem Zimmer.«
Niels bog um die Ecke, ging das letzte Stück bis zur Tür und klopfte an.
Worum geht es denn?
Er wartete ein paar Sekunden und drückte die Klinke herun ter. Die Tür war offen. Silke saß auf dem Bett. Sie sah in den Park – ihr Blick hing irgendwo zwischen Schaukel und den alten Eichen. Ihre nassen Haare waren nach hinten gekämmt, sie musste gerade erst im Bad gewesen sein. Es duftete nach Nadelbäumen und Honig.
»Hallo, Silke«, sagte Niels und setzte sich ihr gegenüber auf die Tischkante. »Erkennst du mich? Ich war hier, als …«
Niels musste sich anders hinstellen, um ihre Augen zu sehen. Zu guter Letzt setzte er sich neben sie aufs Bett.
»Ich weiß, dass Leute hier waren, um mit dir über deinen Vater zu sprechen. Und dass du ihn noch immer sehen wirst. Dass er hier zu dir zu Besuch kommen darf.«
Wieder spürte er ein Zögern in sich aufkeimen. Was wollte er ihr sagen? Wie sollte er ihr das sagen? Er entschloss sich, einfach weiterzureden. Lass deinen Mund die Arbeit machen, ohne zu viel darüber nachzudenken. Vertrau der Macht der Worte.
»Das, was dein Vater getan hat«, begann Niels. »Mich auf die andere Seite zu schicken, um mit deiner Mutter zu reden. Das war verkehrt, sehr verkehrt. Und das weißt du.«
Niels wartete eine Reaktion ab. Nur eine Nuance. Ein Zittern der Nerven. Eine Bewegung mit der Hand.
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