Der schlafende Engel
Zumindest für ihre Begriffe.«
Peter lachte leise.
»Sie konnte ein bisschen schroff sein, das ist wahr. Aber das ist unter Akademikern ziemlich verbreitet. Diese Menschen haben immer nur mit Namen, Daten und Orten zu tun, deshalb ist der Umgang mit richtigen Menschen oft eine ziemliche Herausforderung für sie.«
»Aber sie hat versucht, mir zu helfen. Das rechne ich ihr hoch an. Und das, obwohl sie die ganze Zeit wusste, dass sie deswegen Schwierigkeiten bekommen könnte. Und jetzt …«
Am liebsten hätte April kehrtgemacht und wäre geflohen, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Hast du Angst, die Leute könnten dich schief ansehen?«, fragte Peter mit sanfter Stimme.
»Nein, ich habe Angst, dass sie mir Vorwürfe machen.«
Wieder strich er behutsam über ihren Arm.
»Soweit ich weiß, wurde Annabel von einem irren Schüler getötet, der sich danach mit einem Kanister voll Benzin übergossen und selbst angezündet hat. Was soll das mit dir zu tun haben?«
April wandte den Blick ab. Natürlich war sein Versuch, sie aufzumuntern, lieb gemeint, aber Peter war nicht dabei gewesen. Er hatte Benjamins Gesicht in dieser Nacht nicht gesehen, jenen schauerlichen Moment nicht erlebt, als er sich mit dem Furien-Virus angesteckt hatte – jenem tödlichen Virus in Aprils Blut.
»Aber ich war dabei, Peter …«
»Kein Aber, April. Du kannst dich nicht weiter mit Vorwürfen quälen, nur weil ein verrückter Junge versucht hat, dich in seine kranke kleine Welt hineinzuziehen. Annabels Tod ist eine Tragödie, daran gibt es keinen Zweifel, und sie wird den Menschen in dieser Kirche gewiss sehr fehlen, aber all das ist nicht deine Schuld. Du hättest es ebenso wenig beeinflussen können, wie du etwas am Wetter beeinflussen kannst.«
Nickend hakte sie sich bei Peter unter und ging langsam auf die Kapelle zu. Es war reizend von ihm, andererseits war Onkel Peter Journalist und daran gewöhnt, mit harten Fakten umzugehen. Wie sollte er je verstehen, was in diesem Haus vorgefallen war? Dass Mr Sheldon, der ehemalige Rektor von Ravenwood, den Befehl gegeben hatte, sie zu töten. Dass sie für den Tod von Benjamin Osbourne, einem ihrer Blutsauger-Klassenkameraden, verantwortlich war. Und dass Gabriel – wieder einmal – um ein Haar sein Leben geopfert hatte, nur um sie zu retten.
»Welche der Trauergäste sind ihre Angehörigen?«, flüsterte April, als sie sich in eine Bank im hinteren Teil der Kirche setzten.
»Sie sitzen vorn in der ersten Reihe«, antwortete er und tätschelte ihr die Hand. »Keine Sorge, ich glaube nicht, dass sie wissen, wer du bist.«
Das war ein schwacher Trost. April wusste, wer sie war und was sie getan hatte. Um sich von ihren düsteren Gedanken abzulenken, ließ sie den Blick über die Mauern schweifen und entdeckte eine Fülle an Namen von Männern aus der Gemeinde, die im Ersten Weltkrieg gefallen waren, jenem »Krieg zur Beendigung aller Kriege«, wie H.G. Wells es damals bezeichnet hatte.
Tja, das war ja nicht gerade ein durchschlagender Erfolg, was?, dachte April und bekam sofort Gewissensbisse wegen ihres Sarkasmus. All die vielen Männer, die dort genannt wurden, hatten ihr Leben für ihr Land geopfert. Allein die Tatsache war schon unendlich traurig, viel schlimmer jedoch war die Vorstellung, wie sie von Kugeln oder Granatsplittern zerfetzt worden waren, und die Tatsache, dass sie alle so viele geliebte Menschen hinterlassen hatten, Mütter, Väter, Schwestern, Verlobte. Wie wäre es wohl bei ihr? Würden Caro und Fiona zu ihrer Beerdigung kommen? Gabriel? Würde an irgendeiner Mauer »April Dunne« geschrieben stehen, als Mahnmal für ihre Tapferkeit und das Opfer, das sie gebracht hatte? Wie auch? Schließlich wusste niemand, was vor sich ging. Und welche Rolle spielte es schon, wenn man ohnehin tot war?
April zwang sich, nach vorn zu sehen, wo Miss Holdens Sarg vor dem Altar aufgebahrt war. Eines stand jedenfalls fest: Es hatte schon viel zu viele Tote gegeben. Von Alix Graves, dem Sänger, der in der Nacht von Aprils Ankunft in Highgate gestorben war, über Isabelle Davis, einem Mädchen, über dessen Leiche sie beinahe gestolpert war, bis hin zu ihrem Vater, der mit herausgerissener Kehle in ihren Armen sein Leben ausgehaucht hatte. Und das war nur der Anfang gewesen. Milo, Layla, Marcus – der durchgeknallte Marcus, der es gleich zweimal auf sie abgesehen hatte – und schließlich Miss Holden.
Die Zeremonie war sehr kurz und prägnant gehalten: Zwei Lesungen von einem
Weitere Kostenlose Bücher