Der schlafende Engel
Cousin und einer Tante, ein Segensspruch des Pfarrers, der betonte, wie selbstlos Annabel Holden gewesen war, Lehrerin aus Leidenschaft, Schwester, Freundin und ein Mensch, auf den man stets zählen konnte. April wusste, dass dies nicht immer der Fall gewesen war – zumindest, was sie selbst betraf –, trotzdem kullerten ihr die Tränen über die Wangen, als der Pfarrer zum Psalm 23 anhob:
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück,
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
Dann traten die Sargträger nach vorn und trugen den Sarg in einer feierlichen Prozession ins Freie, wo bereits ein Leichenwagen wartete. Peter trat zu einem der Trauergäste, um mit ihm zu sprechen, deshalb blieb April allein zurück und schloss sich langsam dem Trauerzug an, der sich in Bewegung setzte, um der Verstorbenen zu ihrer letzten Ruhestätte zu folgen.
Erleichtert stellte April fest, dass Miss Holden in einer ruhigen Ecke bestattet werden würde, trotzdem gelang es ihr nicht, Peters Erklärung über die unter der Erde aufgehäuften Leichen zu verdrängen. Wurde Miss Holden nun ebenfalls eine von ihnen? Genauso wie eines Tages all die Menschen, die sich um ihr offenes Grab versammelt hatten? Würden auch sie als ein Haufen Rippen, Schienbeine und Schädel enden, die wieder und wieder in der Erde umgegraben wurden, wenn die Totengräber ein frisches Grab aushoben? Obwohl sie wusste, dass Begräbnisse dazu dienen sollten, mit dem Tod eines geliebten Menschen abzuschließen, dem Sinnlosen einen gewissen Sinn zu geben, fühlte April sich betrogen. Einer der wenigen Menschen, der ihr zu helfen versucht und verstanden hatte, was sie durchmachte, wurde gerade in diesem Loch in der Erde verscharrt. Nun war sie ganz allein.
Meine Güte, werde endlich erwachsen, April.
Sie lächelte, als Miss Holdens Stimme in ihren Gedanken widerhallte. Peter hatte völlig recht – soziale Kompetenz war nicht gerade Miss Holdens Stärke gewesen, doch ihre Leidenschaft und ihre tiefe Überzeugung konnte niemand leugnen. Annabel Holden war eine sogenannte Wächterin gewesen, ein Mitglied eines uralten Geheimbunds, der es sich zum Ziel gemacht hatte, sämtliche Vampire auf der Welt auszulöschen. Sie war diejenige gewesen, die April erklärt hatte, was es bedeutete, die Furie zu sein. Von ihr hatte sie erfahren, wie sie mit einem einzigen Kuss den dünnen Lebensfaden eines Vampirs für immer zerreißen konnte – eine ganz hervorragende Eigenschaft für einen Vampirkiller, aber nicht unbedingt das, was sich ein Junge von seiner Freundin erhoffen würde.
Aber Miss Holden hätte nicht zugelassen, dass April sich in Selbstmitleid suhlte. Stattdessen hätte sie ihr gesagt, sie solle gefälligst die Zähne zusammenbeißen und die Sache eben durchstehen. Schließlich hatte keiner behauptet, dass sie Gefallen daran finden musste. Vor die Wahl gestellt, eine Art Gegengift für eine Horde geheimnisumwitterter Ungeheuer oder eine gewöhnliche Einserschülerin zu sein, hätten sich wohl die meisten nicht für die Variante entschieden, bei der sie Gefahr liefen, bei lebendigem Leib zerfetzt zu werden. Aber diese Wahl hatte April nicht. Vielmehr hatte sie eine Aufgabe: Zumindest Gabriel musste sie aus dieser Hölle des Vampirdaseins befreien. Und wenn sie im Zuge dessen auch gleich noch die Verschwörung in Ravenwood aufdecken und herausfinden könnte, wer ihren Vater ermordet hatte – umso besser. Jedenfalls hatte sie schon viel zu viel Zeit damit vergeudet, untätig hier herumzustehen. Es war höchste Zeit, nach London zurückzukehren. Gerade als sie sich abwandte und den Weg zum Bahnhof einschlagen wollte, trat ein Mädchen in einem schwarzen Kleid auf sie zu. Sie war hübsch, Ende zwanzig und sehr bleich und ernst.
»April Dunne?«, fragte sie.
»Ja?«
April spürte das Brennen auf ihrer Wange, noch bevor sie die Bewegung registriert hatte. Verblüfft wich sie zurück, während der Schmerz auf ihrer Haut zu explodieren schien.
»Arrogantes Miststück«, fauchte das Mädchen. »Wie kannst du es wagen, hierherzukommen?«
April stammelte eine Entschuldigung, als eine grauhaarige Frau in einem langen schwarzen Mantel und einer Pelzmütze herüberkam und dem Mädchen eine Hand auf die Schulter legte.
»Komm, Samantha, das ist jetzt nicht der richtige Augenblick«, sagte sie mit fester Stimme.
»Nein?«, schrie das Mädchen und versuchte erneut, auf April loszugehen. »Sie hat Annabel auf dem Gewissen. Weshalb bist
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